Der Tod oder das Thema Tod an sich war für mich nie etwas, das ich mied. Im Gegenteil – es hat mich immer schon fasziniert, und ich setzte mich damit auseinander. Oftmals geschah dies über die Literatur oder auch über wissenschaftliche Abhandlungen. Aber auch in der Kunst gibt es viele sehr berührende Bilder und Skulpturen, die sich mit dem Thema Tod, Abschied und Trauer auseinandersetzen.
Mich beeindruckt, mit welcher Feinheit Menschen den Ausdruck von Trauer und Schmerz festzuhalten wissen – in einem Gesichtsausdruck, einer Geste, einem Satz oder nur schon einem Wort, das – richtig gesetzt – eine ganze Welt zum Stillstand bringen kann. Ein Augenblick des Innehaltens, der Ruhe, der Besinnung und des Sich-Bewusst-Werdens, dass wir alle vergänglich sind und unsere Jahre auf dieser Erde gezählt sind. Eben das memento mori, das schon in der Antike als Mahnung zur Demut diente – etwa bei Triumphzügen, wenn ein Sklave dem siegreichen Feldherrn diese Worte zuflüsterte, um ihn an seine eigene Sterblichkeit zu erinnern.
Mich erfüllen diese Gedanken mit Ehrfurcht, aber zugleich auch mit Dankbarkeit für das, was das Leben mir schenkt – selbst wenn diese Lektionen nicht nur schön sind. Sie gehören dazu, und wir gehen am Ende unserer Lebensspanne als gereifte Persönlichkeit von dieser Erde. Ein Gefühl der Melancholie spüre ich dann jeweils in meinem Innern. Ein ruhiges, pulsierendes Gefühl.
Ich war auch schon immer gerne auf Friedhöfen, um die Stimmung dort einzufangen. Gerne fotografiere ich ausgesuchte Gräber oder die Parkanlage und versuche so festzuhalten, was man dort an Stimmungen und Eindrücken antreffen kann – gerade auch im Zusammenspiel mit dem Wetter, dem Licht- und Schattenspiel, dem Wind, der Ruhe und der Erhabenheit, die an einem solchen Ort zu spüren sind.
Doch natürlich gibt es auch die hässliche Seite des Todes – dort, wo der Mensch direkt betroffen ist und wo er einem etwas entreisst, das man liebt. Und es gibt den eigenen, ganz persönlichen Tod.
Mir ist Selbstbestimmung wichtig. Deshalb bin ich seit über 30 Jahren Mitglied bei der Sterbehilfeorganisation EXIT. Ich möchte, dass ich die Möglichkeit habe zu bestimmen, wann für mich das Leben nicht mehr lebenswert ist und meine Menschenwürde für mich nicht mehr gegeben ist. Lebensqualität ist ein hohes Gut und wird sehr subjektiv bewertet. Mir ist wichtig, nicht zur Last zu fallen – selbständig und als mündiger Mann durch mein Leben zu gehen. Dies sollte auch bei meinem Tod dereinst nicht anders sein.
Doch es ist auch bei mir nicht so, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod etwas nur Angenehmes ist – durchaus nicht. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als ich mich vor einigen Jahren sehr überraschend einer Rückenoperation unterziehen musste und deshalb in das Triemli-Spital in Zürich überführt wurde. Man verabreichte mir einen Medikamentencocktail – teils, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen, und teils auch, damit ich ein wenig Schlaf finden konnte.
In der Nacht vor dem eigentlichen Eingriff bekam ich eine ziemlich hohe Dosis verschiedener Medikamente, um mich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Diese Medikamente bewirkten in meinem Körper ein wildes Durcheinander an Gefühlen und Reaktionen. Ich kämpfte während Stunden mit dem Gefühl, dass mich etwas „unter Wasser drücken“ wollte (so empfand ich es), und manchmal hatte ich den Eindruck, dass mir etwas Schweres auf der Brust sitzt und mir das Atmen schwierig machte.
Ich rang mit diesen Empfindungen, und ich fühlte mich sehr allein in diesen Stunden. Angst und Beklemmung bemächtigten sich meiner, und ich fand sehr lange keine Ruhe. Alles in mir bäumte sich dagegen auf. So möchte ich meinem Tod nicht begegnen.
Wie so viele Menschen stelle ich mir vor, dass ich einen friedlichen Tod haben werde – ausgesöhnt mit mir und meinem Leben. Aufrecht und von Auge zu Auge möchte ich ihm begegnen.
Ich las einmal einen Artikel über ein Bilderbuch, das den Tod zum Thema hat: Ente, Tod und Tulpe. Noch nie hatten mich Bilder dermassen berührt wie diese es taten. Natürlich war ich zu dieser aussergewöhnlichen Zeit in meinem Leben auch sehr berührbar und empfänglich dafür. Doch dieses Jugendbuch von Wolf Erlbruch hat etwas ganz Besonderes an sich. Bis zum heutigen Tag ist dieses Bilderbuch wichtig für mich.
Es zeigt die Versöhnung einer gewitzten Ente mit ihrem Tod – von der ersten Begegnung über das Kennenlernen, das Anteilnehmen und Akzeptieren bis zu dem Zeitpunkt, wo der Tod sie zu sich nimmt. Oder besser: auf die Reise schickt – und dabei von seinem eigenen Werk angerührt wird …
So soll mein Tod dereinst einmal in mein Leben treten und mich bei der Hand nehmen. Ich erkenne mich in dieser Ente so trefflich wieder: lebensfroh, nachdenklich, ein wenig naiv, aber immer bereit, sich auf neue Dinge einzulassen und neue Herausforderungen zu akzeptieren. Ich mag diese Ente.
Man wird älter, und man verliert Freunde und Menschen, die einem wichtig waren. Man blickt zurück und wird sich dadurch seiner Endlichkeit bewusster.
Manche überspielen dies und verdrängen es mit einem Übermass an Arbeit und Verantwortung – um sich lebendig und unentbehrlich zu fühlen und sich ganz bestimmt nicht mit dem eigenen Tod auseinandersetzen zu müssen. Andere führen diese Ereignisse und Erschütterungen im Leben zu einem Punkt, wo sie sich ganz konkret damit auseinandersetzen, was ihnen wichtig und wertvoll ist.
Das kann zu Veränderungen führen – im Denken, im Fühlen und im Handeln. Man versucht, nochmals etwas ganz Neues oder schon nur Anpassungen im eigenen Lebensmodell zu machen. Was ist der richtige Ansatz? Ich glaube, es ist eine ganz individuelle Entscheidung, wie man sich dazu verhält. Doch ausser Acht lassen sollte man das Thema nicht – denn vielleicht nimmt es einem sonst die Möglichkeit, selbstbestimmt etwas zu ändern, bevor es zu spät ist und man es eventuell bereut.
Wie heisst es in einem Orgelwerk von Johann Sebastian Bach: „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“. Das hat viel an Wahrheitsgehalt für mich.
Wenn man sehr müde ist, so gibt es nichts, worauf man sich mehr freut, als schlafen zu können. Am Ende eines langen Lebens stelle ich mir vor, dass dies ein ähnliches Gefühl sein wird: schlafen zu können – oder dann eben in eine Ruhe eingehen zu können – wird das Grösste sein, was man sich wünscht. Das ist der richtige Zeitpunkt, um von dieser Welt Abschied zu nehmen.
Wir wissen nicht, wann es so weit ist, aber dass dieser Zeitpunkt kommen wird – das ist gewiss.
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
															