Marco kam langsam zu sich. Sein Kopf dröhnte und er wusste für einen Augenblick nicht, wo er sich befand. Langsam kam die Erinnerung zurück. Er befand sich im Zug, auf der Heimreise von einem Geschäftstermin. Sie überquerten gerade einen breiten Fluss auf einer hohen Brücke, als es einen gewaltigen Schlag gab und augenblicklich alles durch die Luft wirbelte. Dann wusste er nichts mehr. Filmriss. Er musste ohnmächtig geworden sein. Nun kehrten seine Sinne aber wieder zurück und er versuchte sich zu bewegen. Von der Hüfte an abwärts war er eingeklemmt. Der gesamte Zugwagen war seitlich eingeknickt, die Verschalung der Kabine war geborsten und die Tragekonstruktion aus Eisen lag offen da. Auf seiner Höhe war diese Konstruktion bis zur Hälfte des Wagons nach innen gedrückt und zusammen mit den herausgefallenen Gepäckstücken klemmte ihn dies ein, sodass er sich kaum mehr bewegen konnte. Er versuchte es trotzdem und räumte, zerrte und riss alle losen Gepäckstücke und einzelne Teile der Verschalung um sich herum weg, die er mit seinen Armen greifen konnte. Es war nur schon ein Wunder, dass er die Arme noch frei hatte und bewegen konnte, wenn er das Ausmass der Zerstörung und das Chaos um sich herum anschaute. Er hörte verzweifelte Schreie, Klopfzeichen und leises Stöhnen. ‚Es muss viele getroffen haben‘, ging es ihm durch den Kopf. Der Zug war gut besetzt. ‚Was wohl Lena denkt?‘ Es musste definitiv ein schweres Verkehrsunglück passiert sein und Lena hatte sicherlich bereits davon gehört. Sie würde vermuten, dass er in diesem Zug sass, denn es passte zeitlich zu dem, was er ihr heute Morgen noch zugerufen hatte, als sie ihn fragte, wann er wieder zuhause sein würde. Gerade zerrte er über sich ein weiteres schweres Gepäckstück aus den verkeilten Seitenteilen seines Zugabteils, um sich damit ein wenig mehr Bewegungsfreiheit zu schaffen, als aus der dahinter liegenden Lücke ein schlaffer Arm herabfiel. Er erschrak fürchterlich, fasste sich aber wieder und berührte vorsichtig die Hand. Es musste die Hand eines Mannes sein. Sie war bewegungslos. Im Dämmerlicht der Öffnung über sich konnte Marco undeutlich die Umrisse eines eingeklemmten Körpers sehen. Der gesamte Oberkörper verschwand unter einem mächtigen Eisenträger, welcher sich aus der Seitenwand herausgerissen hatte. Da war nichts mehr zu machen und Marco liess die Hand wieder los. Panik ergriff ihn. Was, wenn auch er nicht mehr lebend hier herauskäme? Was würde mit Lena und seiner kleinen Tochter Claire passieren? Seine Atmung ging rascher und er spürte einen stechenden Schmerz in seiner Lunge. Als er hinschaute, sah er ein Stück eines Haltegriffs des Zugabteils aus der rechten Seite seines Brustkorbs herausragen. Es hatte sich bei der Kollision in seinen Körper gebohrt und war dort steckengeblieben. Sein erster Reflex war, dieses scharfe Stück Metall aus seinem Fleisch zu ziehen. Doch dann dachte er an seine Ausbildung zum Sanitätssoldaten, die er als junger Mann absolviert hatte. „Fremdkörper nicht entfernen, bis ein Arzt zur Stelle ist“, so lautete die Vorgabe. Zu gross ist das Risiko, dass ein durchtrenntes Blutgefäss heftig zu bluten beginnt. Dann ist eine Rettung kaum mehr möglich. Marco liess das Metallstück wieder los und versuchte sich zu beruhigen. ‚Ich muss einen kühlen Kopf bewahren‘, dachte er und begann sich umzuschauen. Er lag auf dem Rücken, mit dem Kopf unmittelbar am Fenster. Das Sicherheitsglas war in unzählige kleine Stücke zerschlagen, so dass er keine Sicht nach draussen hatte. Nur ein seltsam milchig weisses Licht drang noch durch und tauchte seine Umgebung in ein gespenstisches Licht. Aber immerhin, er konnte etwas sehen. Um seinen Körper herum gab es eine kleine Kammer von rund einem Meter Höhe. Den Abschluss über sich konnte er mit den Fingerspitzen gerade noch berühren, wenn er seine Arme ausstreckte. Links von ihm senkte sich der Raum rasch bis nur noch ein schmaler Spalt offen blieb. In diesen Bereich hatte er die losen Stücke geschoben, die er bisher aus dem Chaos herausreissen konnte. Unmittelbar rechts neben ihm versperrte eine harte Kunststoffplatte der ehemaligen Deckenverkleidung jeden weiteren Raum. Die Luft war stickig, voller Staub und es roch nach verbranntem Plastik. Es war unangenehm heiss. Vielleicht war irgendwo in der Nähe ein Feuer ausgebrochen? Marco fühlte sich eingeengt. Ein Gefühl, das er ganz und gar nicht mochte. Zum Glück konnte er seinen Oberkörper noch bewegen. Das war wichtig für ihn. Dann streckte er seine Arme über den Kopf nach hinten aus. Mit aller Kraft stiess er gegen das Fenster. Das Glas gab nicht nach. In Marcos Kopf arbeitete es fieberhaft. Er griff nach einem kleinen Schalenkoffer, den er auf der linken Seite fand, und stiess diesen mit aller Wucht nach hinten gegen das Zugfenster. Einmal, zweimal und dann ein drittes Mal mit einer Kraft, die er selbst nicht hätte für möglich gehalten. Das Fenster löste sich knirschend aus der Halterung und stürzte in einem Stück nach draussen. Nach ein paar Augenblicken hörte Marco einen harten Aufschlag auf Wasser. Es war nun ganz hell um ihn herum. Er versuchte seinen Kopf nach hinten zu drehen. Das war in seiner Haltung fast nicht möglich. Doch mit äusserster Anstrengung gelang es ihm soweit, dass er aus den Augenwinkeln nach hinten sehen konnte. Ihm verschlug es den Atem, als er realisierte, was er da sah. Das Zugabteil hatte die Brüstung der Stahlbrücke durchschlagen und er lag kopfvoran über dem Abgrund. Unter sich sah er den reissenden Strom des Flusses, den die Zugbrücke überspannte. In diesem Augenblick spürte er ein leises Zittern, das den Wagen durchlief, als dieser sich einige Zentimeter weiter nach vorne schob. Marco zuckte instinktiv zurück, bemerkte aber sogleich, dass es ihm nichts brachte. Er war eingeklemmt und der Situation hilflos ausgesetzt. Doch dieser kleine Ruck nach vorne hatte an der Gemengelage über ihm etwas verändert. Plötzlich bewegten sich einzelne Bruchstücke und fingen an zu rutschen. Marco musste sich schützen und riss seine Hände vor sein Gesicht, um von keinem Trümmerstück getroffen zu werden. Er spürte, wie Dinge an ihm vorbeiglitten, ihn zum Teil berührten oder an seiner Seite entlangschrammten, bevor sie aus der klaffenden Fensteröffnung fielen und tief unter ihm in den reissenden Fluten des Flusses verschwanden. Als er seine Hände wieder vor seinem Gesicht wegnahm schrie er auf. Er sah genau vor sich in ein zerschundenes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen. Es war der Mann, dessen Hand er gehalten hatte. Durch die Verschiebung der Trümmer war sein zerquetschter Köper freigegeben worden und er hing nun genau neben Marco. Sein linker Unterschenkel war noch von einem Koffer eingeklemmt, der nun aber ebenfalls ins Rutschen geriet. Nur Augenblicke später riss sich der Körper frei und stürzte in die Tiefe, wo er hart auf der Wasseroberfläche aufprallte. Marcos Herz raste und er war einer Panik nahe. Plötzlich fühlte er, dass auch sein Köper anfing abzurutschen. Einige Teile, die ihn bis anhin festhielten, hatten sich bereits gelöst. ‚Jetzt bloss keinen Fehler machen.‘ Ihm wurde bewusst, dass dies eine Chance und eine tödliche Gefahr zugleich war. Er musste im richtigen Augenblick einen Halt finden, damit er nicht ebenfalls in die Tiefe fiel, wenn sein Unterkörper nicht mehr eingeklemmt war. Fieberhaft schaute er sich um. In Griffweite lag ein schmales Stück einer ehemaligen Sitzbank aufrecht verkeilt. Es schien breiter als die Fensteröffnung zu sein. ‚Ich muss es schaffen‘, dachte Marco und streckte sich dem Teil entgegen, ‚und es vor dem Fenster einpassen. Dann kann ich mich darauf fallen lassen, sobald ich nicht mehr festhänge.‘ Marco erreichte die Sitzbank mit seinen Fingerspitzen. Plötzlich löste sich eine Tasche über ihm und gab sein linkes Bein frei. Als die Tasche an ihm vorbeischrammte, schlug sie ihm eine tiefe Platzwunde auf der Stirn. Das Blut rann in sein Haar und tropfte in die Tiefe. Doch es war keine Zeit für Selbstmitleid. Marco versuchte sich mit dem freien Bein seitlich abzustützen. Es war aber durch die lange Zeit der Abschnürung komplett gefühllos geworden. Er konnte das Bein nicht kontrolliert bewegen und ein heftiger Schmerz durchlief seine gesamte linke Seite. ‚Das bringt nichts.‘ Seine Position hatte sich aber ebenfalls verändert und er konnte sich besser abdrehen. Mit letzter Kraft griff er nach der Sitzbank neben ihm und konnte sie tatsächlich packen. Sein rechtes Bein begann sich plötzlich ebenfalls zu lockern. Auch auf dieser Seite kamen einzelne Trümmer in Bewegung. Mit einem Ruck riss Marco die Sitzbank aus ihrer Position, hielt sie einen Augenblick lang fest und liess sie dann gezielt fallen. Mit einem lauten Knall blieb die Bank vor der Fensteröffnung liegen. Keine Sekunde zu früh, denn schon flogen weitere Gepäckstücke und Verschalungsteile an ihm vorbei und auch sein rechtes Bein war frei. Kopfüber fiel Marco nach unten und landete unsanft auf der mit scharfen Plastikteilen, Schrauben und allerlei Krimskrams übersäten Sitzbank unter ihm. Seine Hände griffen panisch nach allem, was Halt versprach. Sein geschundener Körper lag nun auf dieser Unterlage. Unzählige Schrammen und Prellungen überzogen seine Haut und Marco fühlte sich wie gerädert. Doch er war noch am Leben. Dies war das Einzige, was zählte. In diesem Augenblick hörte er eine vertraute Melodie. Sein Handy klingelte. Er griff in seine Jackentasche. Tatsächlich, sein Handy war noch da. Mit klammen Fingern nahm er das kleine Gerät aus der Tasche und sah auf das Display. Es war Lena, die ihn anrief. Er nahm ab. „Hallo?“, meldete er sich mit schwacher Stimme. „Marco, bist du das?!“ Die Stimme von Lena überschlug sich fast und er hörte ihre Besorgnis aus dem Tonfall heraus. „Du lebst?“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung und ihre Stimme wurde im selben Moment ruhiger. „Sie bringen gerade eine Live Übertragung im Fernsehen. Es gab eine fürchterliche Kollision von zwei Zügen. Der eine Zug ragt gefährlich weit über die Brüstung der Brücke hinaus. Ich kann nicht erkennen, aus welcher Richtung die Züge kamen.“ Lena sprach atemlos schnell, voller Schrecken und Angst. „Ich muss in dem Zug sein, der aus den Schienen gesprungen ist“, gab Marco mit stockender aber ruhiger Stimme zur Antwort und schilderte ihr in wenige Sätzen seine Lage. Nun war es Lena, die ihrerseits versuchte Marco zu beruhigen. Es sei eine grosse Anzahl an Rettungskräften im Einsatz und auch zwei Hubschrauber seien vor Ort, um etwaige Bergungen aus der Luft zu machen. Marco konnte das knatternde Geräusch der Rotoren hören, die über ihm schwebten. Es gab ihm wieder Hoffnung. Vielleicht wurde doch alles wieder gut. Er wollte es glauben und wie um diese Hoffnung noch zu stärken, begannen sie über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen. Ihr Traum von einem eigenen Haus, wollten sie nun umsetzen. Nicht mehr länger warten und abwägen. Man muss die Dinge tun und nicht nur davon träumen. Sie sprachen auch davon, dass Claire sich ein Brüderchen oder ein Schwesterchen wünschte und dass dies auch der Wunsch von Lena war. Marco hatte bis anhin gezögert, weil er nicht wusste, wie sich seine berufliche Zukunft entwickeln würde. Doch nichts ist sicher im Leben und alles kann sich so rasch verändern. Dies erlebte er gerade. „Ich freue mich, eine grosse Familie mit dir zusammen zu haben“, sprach Marco in sein Handy und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Dann hörte er ein leises Knirschen.
Lena sah im Fernseher gerade noch wie einer der vollständig zerstörten Zugwagons langsam durch die zerborstene Brüstung der Brücke rutschte, dann noch einen Augenblick wippend auf der Kante der gewaltigen Eisenträger stehenblieb, bevor er nach vorne kippte, um dann ungebremst in die Tiefe zu stürzen. In dem Moment wo sich die reissenden Fluten des Flusses über dem Wagen geschlossen hatten verstummte die Verbindung auf ihrem Handy.
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		