DaFabula

Das Buch des Lebens

Es war noch früh am Morgen. Marco war gerade aufgewacht und streichelte nachdenklich über die Fotografie, die eingerahmt neben ihm auf dem kleinen Nachttisch stand. Sie zeigte ihn und seine Frau Claire in einem Café. Claire lachte und ihre Augen strahlten. ‚Wie schön sie war‘, ging es ihm durch den Kopf, ‚und wie kindlich sie sich freuen konnte.‘ Er konnte sich noch genau an diesen Augenblick erinnern. Sie waren damals im Urlaub in Spanien. Alles hatte gestimmt und sie waren glücklich. Das war vor über 30 Jahren gewesen. Gerade hatte er wieder von ihr geträumt. Wie so oft.

‚Wie rasch die Zeit verfliegt.‘ Marco betrachtete im Badezimmer im Spiegel vor sich sein Gesicht. Tiefe Furchen durchwühlten seine Stirn und sein graues Haar war etwas struppig. ‚Ich sollte wieder einmal zu Friseur gehen.‘ Eigentlich hatte er sich rasieren wollen. Doch er hatte heute keine Lust dazu. Mit einem Seufzer drehte er sich um, verliess den Raum und ging in die Küche, wo ihn ein Berg von ungewaschenem Geschirr erwartete. ‚Das muss ich wohl nun zuerst erledigen‘, dachte er und begann mit dem Abwasch.

Nachdem er ein kleines Frühstück zu sich genommen hatte, zog er sich eine Jacke über und ging vor das Haus. Es gehörte zu den festen Ritualen von Claire und ihm, dass sie zusammen einen kleinen Morgenspaziergang machten. Die immergleiche Strecke von ihrem Haus aus am Waldrand entlang, oberhalb des Dorfes. Jeden Tag und bei jedem Wetter. „Nur so kannst du erleben, wie sich die Natur im Laufe des Jahres verändert.“ Das hatte ihm Claire erklärt und sie machte dabei ein ganz ernstes Gesicht. Er mochte diesen Gesichtsausdruck. Er zeigte ihm, dass es Claire ganz wichtig war, was sie ihm in diesem Moment erklärte. Noch lange, als Claire bereits von ihrer schweren Erkrankung gezeichnet war, hielten sie an dieser liebgewonnenen Gewohnheit fest. Es war ihre ganz persönliche Zeit, die sie sich von niemandem nehmen lassen wollten. Sie wussten nur zu gut, dass später am Tag zu viele Termine anstanden und ihnen dann die Zeit und die Ruhe dazu fehlten. Zuerst ging es noch ganz ordentlich und Claire konnte gut mithalten. Später dann musste er sie stützen. Doch sie gaben beide nicht auf. Erst als sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, mussten sie davon absehen. Doch Marco ging weiter jeden Tag ihren Weg und erzählte ihr dann anschliessend ausführlich, was sich verändert hatte. Manchmal brachte er ihr auch eine kleine Blume, ein vielfarbiges Blatt oder einen schön geformten Stein mit. Claire horchte seinen kleinen Geschichten vom neuen Tag ganz konzentriert, mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Doch auch das erschöpfte sie zusehends mehr und in der letzten Phase ihrer Krankheit, schlief Claire die meiste Zeit. Marco liess sich dadurch aber nicht davon abbringen, ihr von ihrem Spazierweg zu erzählen und er hielt dabei ihre zarte Hand in seinen Händen. Manchmal konnte er einen leichten Druck spüren, so als wollte sie ihm mitteilen, dass sie ihm zuhörte und seine Anwesenheit schätzte. Dies versicherte ihm auch die Palliativpflegerin, die jeweils einige Stunden pro Tag bei ihnen im Haus war. Als sie dann aber eines morgens gar nicht mehr aufwachte, brach für Marco die Welt zusammen. Er zog sich zurück. Er hatte mit Claire einen seelenverwanden Menschen verloren, mit dem er gemeinsam durch das Leben ging. Nun fühlte sich alles plötzlich sinnlos und leer an. Er baute um sich herum eine Mauer des Schweigens. Am Anfang versuchten ihn seine Freunde noch aus diesem Zustand herauszuholen. Sie besuchten ihn, denn Anrufe nahm er keine entgegen, oder sie schrieben ihn mit einer eMail an, die er zumeist unbeantwortet liess. Doch er gab mit jeder Bewegung und jeder Geste zu verstehen, wie unangenehm es ihm war, jemanden um sich herum zu haben. Er wurde nie unhöflich oder abweisend. Doch die Menschen verstanden auch so, dass sie ihn durch ihre Anwesenheit nicht erreichen konnten. Er wollte allein sein. Allein mit seiner Trauer, dem Schmerz und seinen Erinnerungen. Nur den kleinen Morgenspaziergang absolvierte er auch weiterhin. Er machte ihn bloss ein kleines Stück länger bis hin zu dem kleinen Waldfriedhof. Dort erzählter er Claire von den kleinen Wundern der Natur, den Blumen, den flinken Vögeln, den goldenen Sonnenstrahlen, den sanften Regentropfen, dem Schnee oder dem übermütigen Wind. In diesen Augenblicken fühlte er sich ihr wieder nah und es kam ihm vor, als würde sie ihm zuhören und er sah ihr schönes Lächeln und das Strahlen ihrer Augen wieder ganz deutlich vor sich. Es waren nun beinahe schon zwei Jahre ins Land gezogen, seit er sich hatte von Claire verabschieden müssen.

An seinem Weg, den er morgens ging, lag ein kleines, altes Holzhaus mit einem verwilderten Garten. Er hatte früher schon mit Claire viel darüber gesprochen, wer wohl einst dort gelebt hatte. Die Brombeerbüsche wucherten wild und verbargen beinahe das hübsche Haus hinter sich. Im Sommer naschten sie jeweils von den wunderbaren, dunklen und sonnensüssen Früchten. Sie waren so reif und zart, dass sie beim Pflücken öfters dunkelblaue Fingerkuppen bekamen. „Das können wir nicht abstreiten, wenn uns jemand fragt, ob wir unerlaubterweise die Beeren gepflückt haben“, sagte Claire einmal scherzhaft. Bei dieser Vorstellung mussten sie beide lachen. Doch in diesem Frühling tat sich etwas bei diesem Grundstück. Marco sah öfters Arbeiter in dem kleinen Haus ein- und ausgehen und zu guter Letzt wurde auch noch die Brombeerhecke zurechtgestutzt. Danach war es wieder ruhig. Doch eines Tages sah er beim Vorbeigehen eine ältere Frau im Garten arbeiten. Die Beete waren frisch angelegt und die Büsche, Sträucher und Hecken trugen wieder ihre ursprüngliche Form. Am Schönsten waren aber die alten Rosenstöcke, die von Unkraut und Efeu befreit, wieder zu sehen waren. Sie alle trugen üppige Knospen. Marco verweilte einen Augenblick am Zaun des Grundstücks. Da sah die Frau kurz auf und sah ihn dort stehen.

„Hallo, fremder Mann!“, rief sie ihm zu und lachte dabei. Sie winkte und Marco winkte ganz automatisch zurück. Dann ging er einfach weiter. ‚Warum habe ich mich ihr nicht vorgestellt‘, dachte er. Abrupt blieb stehen, drehte sich um und rief: „Ich bin übrigens Marco! Ihr Haus und ihr Garten sind hübsch geworden!“ „Hallo, Marco! Ich bin Lena! Und danke für das Kompliment!“ Sie winkte ihm nochmals lächelnd zu und schenkte dann ihre Aufmerksamkeit wieder den Blumen, die sie gerade am Pflanzen war.

Als Marco an diesem Tag den gewohnten Weg weiterging, war er mit seinen Gedanken bei dieser harmlosen Begegnung. Irgendetwas hatte ihn angerührt. War es die Unbeschwertheit dieser Frau oder ihre Art zu lachen? Er konnte es nicht sagen, aber es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als er dann vor dem kleinen Grabstein von Claire stand, hatte er ein schlechtes Gewissen. Beinahe so, als hätte er etwas getan, was er nicht durfte. Marco war verwirrt.

In den nächsten Tagen ergaben sich immer wieder Gelegenheiten, wo Marco und Lena kurz miteinander sprachen. Diese kurzen Gespräche waren nie nebensächlich und drückten allesamt die Wertschätzung für das aus, was das Leben und die Natur ihnen schenkte. Marco begann wieder seine Augen zu öffnen und wenn er das eine oder andere Mal zusammen mit Lena durch ihren Garten spazierte, konnte er die Schönheit wieder erkennen. Auch davon erzählte er Claire bei seinen täglichen Besuchen.

Das Licht des morgens schwebte noch ganz frisch und leicht über dem Dorf und der Landschaft, als Marco wieder einmal den Garten betrat. Der Tau glitzerte noch auf den Blättern und der Wind trug den Duft von Blumen zu ihm. Lena kniete am Rosenbeet, ihre Hände tief in der Erde vergraben. Als sie ihn sah, lächelte sie, stand auf und wischte die Hände an der Schürze ab. Dann strich sie sich mit einer leichten Handbewegung eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Die Rosen blühen bald”, sagte sie.

Marco nickte. „Claire liebte Rosen”, sagte er leise. „Sie hatte einen ganzen Garten voller herrlicher, roter Blüten.”

Lena berührte seine Hand. „Und du? Was liebst du?”

Marco blickte in ihre Augen und dachte einen Augenblick lang nach. Über das, was hinter im lag und das, was er sich wünschte. „Ich liebe das, was noch kommen wird”, flüsterte er. „Mit dir.”

Die Sonne stieg höher. Marco und Lena setzten sich auf die Gartenbank bei den mächtigen alten Bäumen. Marco erzählte von Claire, von den Nächten, in denen sie damals unter dem Sternenhimmel lagen und von der Zukunft träumten. Lena lauschte und ihre Finger tasteten dabei sachte über die Rinde eines Baumstamms.

„Manchmal”, sagte sie, „müssen wir die Vergangenheit loslassen, um Platz für Neues zu schaffen.”

Marco dachte an die leeren Seiten seines Lebensbuches. „Aber wie?”

Lena lächelte ihn an. „Indem wir uns öffnen und neugierig sind. Indem wir den Mut haben, wieder zu leben und zu lieben.”

Marco spürte, wie etwas tief in ihm drin wieder zu klingen begann, wie die Trauer langsam wich und Platz machte für die Hoffnung. Ihm war, als würde er die Dinge um sich herum plötzlich mit anderen Augen betrachten. Alles sprach wieder zu ihm und Lena war wie ein Lichtstrahl, der durch die Wolken brach und ihm den Weg wies.

Die Tage vergingen, und Marco und Lena verbrachten jede freie Minute miteinander. Oft gingen sie Hand in Hand durch den Wald, sprachen über Bücher, Träume und die kleinen Wunder des Lebens. Marco fand Trost in ihren Worten und Lena fand Frieden in seiner Nähe.

Eines Abends stand Marco vor dem grossen Spiegel in seinem Schlafzimmer. Er betrachtete aufmerksam sein Spiegelbild und in seinem Inneren zogen Bilder aus seinem früheren Leben an ihm vorbei. Dann dachte er an Lena, an ihr Lachen, ihre Wärme.

„Claire”, flüsterte er, „ich hoffe, du siehst das. Ich habe wieder Hoffnung gefunden.”

Am nächsten Tag nahm Marco Lena mit zum Rosenbeet im Garten. Er kniete nieder und pflückte die erste vollerblühte Rose. „Für dich”, sagte er und reichte sie ihr. Lena lächelte. „Für uns.” Und als sie die Rose entgegennahm, blieben ihre Finger einen Moment lang auf seiner Hand ruhen.

Der Garten blühte und wechselte mit den Jahreszeiten sein Gewand, während Marco und Lena gemeinsam ihr Buch des Lebens weiterschrieben. Seite für Seite, Wort für Wort.

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