DaFabula

Das ehrenwerte Haus

„Wissen Sie was, ich bin wütend. Ich meine, richtig wütend. Ich lebe nun seit 30 Jahren in diesem Haus und wir haben hier nachbarschaftliche Regeln. Schliesslich will man mit Anstand und Respekt zusammenleben. Das hatte schon Alois, möge er in Frieden ruhen, immer gesagt. Doris, hat er gesagt, Disziplin und Ordnung, das sind die wichtigsten Dinge. Nur so kann man auf eine anständige Art und Weise zusammenleben. Er musste es wissen, schliesslich war er als leitender Buchhalter in der regionalen Bank in einer verantwortungsvollen Position. Da konnte er sich keine Patzer leisten. Und jetzt das. In unserem ehrenwerten Haus.“

och blenden wir zurück. Die Frau, die gerade aufgebracht in ihrer Wohnung vor dem grossen Wohnzimmerfenster auf- und abgeht, ist Frau Kunz. Eine gepflegte Erscheinung, um die 70 Jahre alt, stets auf ihre dezente Art gekleidet, gut frisiert und mit tadellosen Umgangsformen. Sie lebte mit ihrem Ehemann Alois ein ruhiges, zurückgezogenes Leben, immer darauf bedacht, bei niemandem aufzufallen oder in irgendeiner Weise die Privatsphäre zu verletzen. Das war sie sich schuldig und nahm dafür auch ganz selbstverständlich für sich in Anspruch, die informelle Wortführerin gegenüber dem Besitzer des Hauses, Herrn Wiedemann, zu sein. Frau Kunz organisierte jedes Jahr ein, wie sie es nannte, ‚gemütliches Zusammensein‘ bei ihr in der Wohnung. Dies waren aber jedes Mal straff geführte Arbeitstreffen, immer an einem Sonntagnachmittag, wo sich Frau Kunz anhand einer Traktandenliste, die sie in ihrer zierlichen Handschrift niedergeschrieben hatte, von Punkt zu Punkt bewegte. Es gab immer Dinge zu entscheiden, die man dann Herrn Wiedemann vorlegen wollte. Frau Kunz ermunterte ihre Nachbarn jeweils eine Weile im Voraus, man solle ihr etwaige Anliegen vorgängig, natürlich in Schriftform, zukommen lassen, damit man diese dann während dem Treffen behandeln könne. Diese Information überbrachte sie jedem Nachbarn persönlich und hatte dann jeweils einen gewissen Unterton in der Stimme, die einen wissen liess, dass man möglichst keine persönlichen Punkte einbringen sollte. So kam es dann auch, dass Frau Kunz sich in der Regel nicht mit Nichtigkeiten abgeben musste, sondern sich auf ihre Themen konzentrieren konnte. Schliesslich gab es immer wieder Themen, die man aktiv angehen und – wie sie sich auszudrücken pflegte – im Interesse der Gemeinschaft Herrn Wiedemann vorlegen müsse. Danach besprach man den neuen Wäscheplan mit einem akribisch genauen Zeit- und Schlüsselplan, die Ruhezeiten im Haus, den Zeitpunkt der Heckenpflege und weitere Punkte, die geregelt und überwacht werden mussten. Praktischerweise hatte Frau Kunz dann vorgängig bereits Vorschläge vorbereitet, damit, wie sie meinte, nicht allzu viel Zeit für die Diskussion verloren ginge und man zum gemütlichen Teil des Zusammenseins übergehen könne. Da bis vor zwei Jahren auch immer Alois Kunz an diesen Treffen teilnahm und er schon durch seine korrekte Erscheinung und sein Auftreten die anderen Anwesenden einschüchterte, gab es in all den Jahren eigentlich auch nie Widerspruch, was Frau Kunz immer als ein Zeichen des Vertrauens und der Wertschätzung in ihre Arbeit verstand und sich dafür überschwänglich bedankte. Eine der ganz wenigen Momente, wo sie ein kleines Bisschen ihre Beherrschung verlor und emotional wurde. Das war dann aber auch der Augenblick, wo sie sich erhob und den offiziellen Teil des Treffens für beendet erklärte, nur um dann gleich in der Küche zu verschwinden und mit einem herrlich duftenden Kuchen wieder zu erscheinen. Frau Kunz war bekannt für ihre Backkünste und dies durchaus zurecht. Hatte dann jeder der Teilnehmenden brav sein Stück des Gebäcks zusammen mit der obligaten Tasse Tee aufgegessen, durfte man sich dann endlich verabschieden und zurück in die eigene Wohnung gehen. Aber nicht ohne dass Frau Kunz nachdrücklich versicherte, dass sie die Entscheidungen aus dem Treffen Herrn Wiedemann vorlegen und mit Nachdruck auf deren Wichtigkeit hinweisen werde. Dabei tippte sie mit dem Zeigefinger auf das neben ihr liegende Protokoll, welches sie verfasst hatte und später auch an die Nachbarschaft verteilen würde. Natürlich zusammen mit dem Ergebnis der Unterredung mit Herrn Wiedemann. An dieser Tradition wurde auch nach dem Ableben von Alois Kunz weiter festgehalten und Frau Kunz tischte immer auch ein Gedeck für ihn auf, denn so könne ihr Mann, möge er in Frieden ruhen, doch noch im Geiste mit dabei sein. Doch was war passiert? Was hat Frau Kunz dermassen in Rage gebracht?

Vor einem Monat geschah etwas sehr Aussergewöhnliches: Es gab einen Mieterwechsel im Erdgeschoss. Die vorherige Mieterin musste leider ins Altersheim übersiedeln. Das alleine hätte schon ausgereicht, um Frau Kunz in eine leicht aufgebrachte Stimmung zu versetzen. Doch dann kam die Neue und das noch mit einem kleinen Jungen. Es war eine junge Frau, mit fliegenden blonden Haaren, immer ganz ordinär in Jeans und mit einem TShirt gekleidet. Der Junge hatte glänzendes schwarzes Haar und ebensolche Augen und seine Hautfarbe war dunkler als gewöhnlich. „Das Kind ist nicht von hier“, dachte Frau Kunz. „Typisch, das passt zu der Erscheinung der Mutter und ihrem Umgang“, wie sich das Frau Kunz lebhaft vorstellen konnte. All dies war passiert ohne dass man sie vorgängig darüber informierte. Das hätte sie nicht von Herrn Wiedemann erwartet. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Beinahe täglich erschienen fremde Menschen im Treppenhaus, mit Säcken voller Zeugs und oft in Begleitung von lärmenden Kindern. Sie läuteten bei der neuen Nachbarin, deren Klingel immer noch nicht beschriftet war, und verschwanden dann laut schwatzend in der Wohnung. Das konnte Frau Kunz durch den schmalen Spalt ihrer leicht geöffneten Wohnungstür ganz genau hören, wo sie sich jeweils aufpflanzte, nachdem sie vom Fenster aus gesehen hatte, dass wieder jemand gekommen war. Und was für Leute das waren. Es schien ihr, als wären sämtliche Nationalitäten vereint. Nicht, dass Frau Kunz etwas gegen Ausländer hätte, aber doch nicht in ihrem Treppenhaus. Was aber dem Ganzen die Krone aufsetzte war, dass sich auf der kleinen Gartenterrasse der Wohnung immer mehr Plastikspielzeug und andere Spielsachen anhäuften. Was für eine Unordnung und was sollten die benachbarten Häuser von ihrem Haus denken? So durfte dies nicht weitergehen. Doch als Frau Kunz eines Abends von einem langen Treffen mit ihrem Verein zur Verschönerung der Stadt zurückkam, war plötzlich alles weg. „Nun hat diese Person sicherlich alles in ihre Wohnung gestopft. Vielleicht ist sie sogar ein Messie.“ Darüber hatte sie kürzlich in einer Zeitschrift bei ihrem Friseur gelesen. „Genug, nun muss ich etwas unternehmen“, murmelte sie vor sich hin, als sie hastig in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel suchte. In einer für sie untypisch hektischen Art eilte sie die drei Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Jetzt musste diese Person zur Rede gestellt werden. Frau Kunz setzte ein Schreiben auf und unter dem Titel „Wehret den Anfängen“ beschrieb sie säuberlich was sie gesehen hatte und dass nun die Zeit zum Handeln gekommen sei. Dann verteilte sie diese Briefe in fünf der sechs Briefkästen des Wohnblocks und ging befriedigt zu Bett. Sie konnte lange nicht einschlafen, so aufgewühlt war sie von dem was hier passierte. Doch sie war sich sicher, dass ihr Alois stolz auf sie gewesen wäre.

Am nächsten Vormittag, zu der im Brief aufgeführten Zeit, versammelten sich alle Nachbarn in der Wohnung von Frau Kunz, wo sie nochmals in allen Details diese unhaltbaren Zustände in der Erdgeschosswohnung beschrieb. Dann gingen sie gemeinsam zu der Eingangstüre der Wohnung, wo die Klingel immer noch nicht beschriftet war. Energisch klingelte Frau Kunz und wiederholte es nach ein paar Sekunden gleich nochmals. Es sollte niemand an ihrer Entschlossenheit zweifeln. Ein paar Augenblicke später öffnete eine junge Frau mit einem überraschten Gesicht die Tür. Sie trug ein paar abgewetzte Jeans und an ihrem hellen TShirt prangten einige Flecken. Ein kleiner, schwarzhaariger Junge klammerte sich ganz eng an ihre Beine und schaute ängstlich hoch. Noch bevor sie etwas sagen konnte, stürmte Frau Kunz bereits in die Wohnung, wo sich überall Kisten türmten. Daneben lag Spielzeug, wohin man schaute. „Sehen sie“, sagte Frau Kunz mit triumphierender Stimme an die kleine Schar der Nachbarn gewandt, „was habe ich ihnen gesagt!“ Dann baute sie sich vor der jungen Frau auf und begann mit einer Standpauke. Ob sie denn eigentlich wisse, in was für einer noblen Gegend sie wohne und dass man sich eine solche Unordnung verbitten würde und überhaupt, was all diese fremden Leute hier wollten, die im Hausgang herumlungerten. Die kleine Schar der Nachbarn schaute derweil betreten in alle Richtungen. Fast wie in einem Fahrstuhl. Als Frau Kunz endlich eine Pause einlegte und der jungen Frau mit funkelnden Augen und geröteten Wangen ins Gesicht schaute, konnte diese endlich etwas sagen.

„Ich bin Ärztin und habe gerade ein Jahr in einem Spital in Rumänien verbracht, um dort beim Aufbau einer Kinderklinik zu helfen, welche einem Kinderheim angegliedert ist.“

„Na und“, blaffte sie Frau Kunz an, „das gibt ihnen noch längst nicht das Recht hier bei uns alles in Unordnung zu bringen.“

Die junge Frau schaute ihr nun direkt in die Augen. „Dort habe ich auch meinen kleinen Jungen Andrei adoptiert, weil ich gesehen habe unter was für Bedingungen diese Kinder dort aufwachsen müssen. Er ist gerade daran sich einzuleben. Es ist nicht einfach für ihn, aber er macht es wunderbar.“ Sie streichelte Andrei über sein pechschwarzes Haar und nickte ihm lächelnd zu. „Als ich nun wieder hierher zurückgekehrt bin, habe ich in den sozialen Medien eine Spendenaktion gestartet, um Spielzeug für die Kinder in Rumänien zu sammeln. Ich bin überwältigt von der Grosszügigkeit der Menschen, die etwas spenden wollen und die oft selber nur das Nötigste besitzen. Heute fuhr der erste vollständig beladene Lastwagen nach Bukarest ab und immer ist noch so viel hier.“ Mit einer raumgreifenden Bewegung ihres rechten Arms deutete sie auf die Wohnung. Die Blicke der verschreckt dastehenden kleinen Schar folgten dieser Bewegung.

Frau Kunz trat einen Schritt zurück, behielt die junge Frau aber weiterhin mit ihren verkniffenen Augen fixiert, als diese sagte: „Ich brauchte Platz für all diese wunderbaren Dinge und da diese Wohnung vor ihrer Renovierung gerade leer steht, nutzte ich die Gelegenheit. Mein Vater hat mich darauf aufmerksam gemacht und ich bin ihm so dankbar dafür.“ Der Blick der jungen Frau löste sich aus der Fixierung von Frau Kunz und sie schaute lächelnd in die Runde der kleinen Gruppe, die vor ihr im Flur stand.

„Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Lena Wiedemann und mein Vater hat immer so geschwärmt von der Nachbarschaft und dem guten Geist in diesem Haus.“

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *