Lena lag schläfrig auf einer Decke im Gras, mitten im Garten von Grossvater und blinzelte zwischen ihren Fingern hindurch in die Sonne, die strahlend am blauen Himmel stand. Grossvater lag neben ihr und las. «Kennst du eigentlich «Das Grüne Gold», fragte er Lena ganz beiläufig und klappte sein Buch zu. «Ist das ein Schatz?» Nun war Lena wieder hellwach und begeistert. «Sag schon, ist es das?» Lena setzte sich auf und schaute ihren Grossvater erwartungsvoll an. Der musste lächeln als er die Aufregung in ihren Augen sah, denn für eine richtige Abenteuergeschichte war Lena immer zu haben. Und dann auch noch eine Schatzgeschichte. «Komm, Lena, gib mir deine Hand», sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen, «lass uns gemeinsam eine Reise machen.» Lena wusste, was das hiess, denn das hatten sie schon früher gemacht. Sie legte ihre Hand in die grosse Hand ihres Grossvaters und er umschloss sie sanft. Dann machten sie die Augen zu.
Einen Moment später sah Lena sich durch den glänzenden, hellblauen Himmel von Andalusien fliegen, der sie prächtig überspannte. Hier lebten ihre Grosseltern viele Jahre. Ihre Glücklichsten, wie er ihr einmal gesagt hatte. Unter ihr erstreckten sich schier unendliche Reihen von Olivenbäumen. Allesamt in der Art gepflanzt, dass es von oben herab wie ein riesiges Schachbrett aussah. Ihre Kronen wiegten sich sanft im Wind. Die Blätter hatten eine silbrige Unterseite, so dass es aussah, als würden tausend glitzernde Kristalle ihren schönsten Tanz aufführen. Sie sah wie die Jahreszeiten sich abwechselten. Der Winter, der auch hier im Süden Spaniens zu spüren war und frostige Nächte bescherte, brachte ein emsiges Treiben in die grossen Olivenbaumplantagen. Viele Menschen waren zu sehen, die die Bäume zurückschnitten. «Sie machen das, damit die Bäume ihre schöne Form behalten und auch wieder neue Triebe bilden können», hörte sie die Stimme ihres Grossvaters sagen.
Schon spürte Lena wie es wieder wärmer wurde. Der Frühling war da und die Olivenbäume trugen kleine weisse Blüten. Rund um ihre knorrigen Stämme breitete sich ein dichter, grüner Teppich aus, der von unzähligen gelben Blüten geschmückt war. ‘Wo sind die Bienen’, ging es Lena durch den Kopf und wieder hörte sie die Stimme ihres Grossvaters. «Diese Arbeit der Bestäubung wird vom Wind geleistet. Schau genau hin.» Plötzlich konnte sie Lena sehen, die unzähligen zarten Pollen, die vom Wind sanft durch die Luft getragen wurden, um dann schliesslich auf dem Stempel einer weiblichen Blüte zu landen.
Nun schien die Sonne heiss und träge auf das ausgedorrte Land unter ihr. Es war Sommer geworden und die kleinen grünen Olivenfrüchte wuchsen an den feinen Zweigen der Bäume. Zum Teil war es nur eine Frucht, die mit einem feinen Stängel direkt am Zweig hing. Dann wieder waren es einige Früchte, die eng beieinander an einem Zweig hingen.
Und wieder veränderte sich das Szenario und die Sonne stand tiefer, was ihrem Licht einen goldenen Charakter verlieh. Es war Herbst und die Oliven waren gross geworden. Viele waren immer noch satt grün, andere begannen sich bereits zart lila zu färben bis sie schliesslich schwarz wurden. Je nach Olivensorte war dies anders.
«Jetzt zeige ich dir etwas zu der Geschichte des Olivenbaums», sprach Grossvater und sofort veränderte sich ihre Umgebung wieder.
Lena sah Männer und Frauen unter sich auf einem grossen Platz vor einem grossen Tempelbau mit einem Säulengang. Ein geschäftiges Treiben. Viele trugen luftige Kleidung aus Leinen, zum Teil kunstvoll verziert oder sogar gefärbt, andere einfach gehaltene. Ein wunderbarer, offensichtlich sehr alter Olivenbaum stand an der Seite des Tempels. Er hatte einen mächtigen Stamm und seine Rinde war tief gefurcht. Die imposante Krone überragte die Menschen, die diesen Baum verehrten. Ein Priester führte gerade eine Zeremonie vor dem Baum durch und es war eine Gruppe von Menschen um ihn herum versammelt. «Der Olivenbaum war und ist in vielen Kulturen etwas Besonderes, wurde verehrt und geschätzt», führte Lenas Grossvater wieder aus, «Den Gewinnern in den antiken Olympischen Spielen in Griechenland wurden Zweige eines heiligen Olivenbaums als Zeichen des Sieges übergeben.» Für einen Augenblick sah Lena das Stadion von Olympia, mit seinen unzähligen Zuschauern. «Doch auch als Zeichen des Friedens, des Lebens und der Verbindung mit Gott spielte der Olivenbaum in vielen Kulturen eine bedeutende Rolle. Erinnerst Du Dich an die Taube mit dem Olivenzweig». Lena erinnerte sich an den Religionsunterricht und an die Geschichte von Noah mit seiner Arche und nickte langsam. «Diese Verehrung für den Olivenbaum zog sich durch die Geschichte. Bis in die heutige Zeit.»
Wieder veränderte sich alles um Lena herum und sie befand sich plötzlich mitten unter einer Gruppe fröhlicher Menschen, die meisten waren Männer, die in einem Olivenhain standen. Sie alle waren ausgerüstet mit grossen schwarzen Netzen und langen Stangen. Die Männer trugen derbe Arbeiterhosen, hatten entweder einen nackten Oberkörper oder trugen nur ein einfaches Unterhemd. Ihre Füsse steckten in klobigen Schuhen. Sie alle trugen einen Hut um sich gegen die Sonne zu schützen, die über ihnen am Himmel thronte. Die Meisten waren unrasiert. Die Bäume um sie herum waren schwer mit Oliven behangen. Nun legten die Männer geschickt die Netze unter den Bäumen aus, so dass die Aussenkante über die Baukronen hinausragte. Dann begannen sie mit den langen Stangen auf die dicken Äste der Bäume zu schlagen. Ganz gezielt, so dass möglichst keine kleineren Äste zu Schaden kamen. Sofort begann es Oliven zu regnen. Sie prasselten auf die Netze herunter und schon bald war jedes Netz mit Tausender dieser grünen Früchte belegt. Die Männer zogen kraftvoll und behände die Enden der Netze zusammen, so dass die Oliven allesamt zu einem grossen Haufen zusammenrollten und von Hand in die bereitstehenden Körbe gefüllt werden konnten. Dann wurden die leeren Netze zum nächsten Baum gezogen und die die prall gefüllten Körbe in grosse Behälter umgeleert, die später von Traktoren aufgeladen und abtransportiert wurden. Dies wiederholte sich Stunde um Stunde, Tag für Tag, bis endlich die riesigen Plantagen abgepflückt war.
«Lena?» Sofort schrak sie auf. Es war Grossmutter. «Lena, wo bist Du?» Sie hatte in der Zwischenzeit den Tisch draussen vor dem Haus unter den grossen, schattigen Bäumen gedeckt. Es musste viel Zeit vergangen sein, denn die Sonne stand bereits tief am Horizont und ihr Licht war golden geworden. Auch ihr Grossvater hatte die Augen geöffnet und schaute in Himmel über ihnen. «Das, was ich gesehen habe, war sehr schön», sagte Lena und sah nachdenklich dabei aus. «Ich flog durch die Zeit, durch die Kulturen und sah, wie sich alles veränderte. Doch eines blieb sich immer gleich: Die Liebe zu diesem Baum, dem Olivenbaum, den die Menschen verehrten.» Sie schwang ihre Beine von der Liege und setzte sich aufrecht vor Grossvater hin. «Doch was hat dies alles mit diesem Schatz zu tun, von dem wir sprachen?» Grossvater drehte seinen Kopf zu ihr und lächelte sie geheimnisvoll an. Dann stand er auf, nahm sie bei der Hand und zog sie ebenfalls hoch. «Komm, ich zeig dir etwas». Sie schlenderten durch das hohe Gras zum schön gedeckten Tisch, wo die Grossmutter stand. Sie hatte ihre Hände an die Hüften gestemmt und betrachtete die beiden. «Habt ihr zwei wieder den ganzen Nachmittag mit Träumereien vertrödelt?» sagte sie und hatte einen verschmitzten Gesichtsausdruck. Dann verschwand sie wieder im Haus und man hörte aus der Küche Geschirr klappern. Mittlerweile standen sie neben dem Tisch, wo bereits eine grosse Schüssel mit frischem Gartensalat und eine Platte mit aufgeschnittenen Avocados hingestellt war. Daneben standen zwei edle Kristallkaraffen gefüllt mit Essig und Öl und die gläsernen Salz- und Pfeffermühlen. Grossvater hob eine der Karaffen hoch und hielt sie direkt vor den Sonnenball am Horizont. Sofort erstrahlte ihr Inhalt in einem funkelnden, tiefen Grünton. Er nahm den gläsernen Zapfen vorsichtig aus dem Hals der Karaffe und goss ein wenig des Inhalts in ein kleines Glas. Dann bot er es Lena an. «Riech einfach daran und schliess deine Augen dabei.» Lena nahm das Glas entgegen und führte es an ihre Nase. Sofort flog sie wieder über die weiten Olivenhaine, fühlte sich frei und spürte den warmen Wind des Südens, der sanft über die sonnenverwöhnten, reifen Oliven strich. Sie hörte wieder das lebhafte Rascheln von Olivenblättern und sah ihr silbernes Flickern. «Wenn die Farbe Grün einen Duft hätte, dann diesen», murmelte sie leise vor sich hin, «Ein Duft, der nach frisch geschnittenem Gras riecht.» Nun wollte sie kosten und nahm einen winzigen Schluck des Öls in den Mund. Sofort entfaltete sich eine sanfte, grüne Frische in ihrem Mund, die an die Blätter des Olivenbaums erinnerte und ein Gefühl von Lebendigkeit weckte. Dann nahm sie der Geschmack mit auf einen Spaziergang durch Obstgärten voller reifer, saftiger Früchte – ein Hauch von süßer Fruchtigkeit. Als nächstes schmeckte sie eine leichte, angenehme Bitterkeit, wie die sanfte Berührung des mediterranen Winds, der über alte Olivenhaine streicht. Schließlich blieb ein leichter, pfeffriger Nachgeschmack, der an die tief verwurzelte Erde erinnert, in der diese edlen Bäume seit Jahrtausenden gedeihen. Lena war, als ob jeder Tropfen ihr eine Geschichte erzählt – von sonnigen Tagen, uralten Traditionen und der ewigen Verbindung zwischen Mensch und Natur. Ein Geschmack, der sowohl stark als auch zart, sowohl einfach als auch komplex ist – genau wie das Leben selbst.
Lena öffnete ihre Augen wieder. «Das ‘Grüne Gold’», sagte sie beinahe flüsternd, «nun verstehe ich, was es mit diesem Schatz auf sich hat.»
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		