Dein Blick
Nun stehst du vor mir und lächelst mir ins Gesicht. Deine Augen erzählen mir deine Geschichte, die mir dein Mund verschweigt. Es sind viele Geschichten – das kann ich spüren. Dein klarer Blick zieht irgendwie an mir vorbei und trifft trotzdem mitten in mein Herz. Liegt etwas Fragendes darin, oder ist es das Wissen um die Antworten? Warum schaust du mir nicht direkt in die Augen?
„Augen sind die Fenster zur Seele des Menschen“, sagt man – und ich glaube, es liegt sehr viel Wahres in dieser Aussage. Wo schwingt deine Seele, und wo berühren sich unsere Herzen? Es ist ein und derselbe Platz, an dem ich dich treffen und dich halten kann. Irgendwo tief in mir drin, an einem sicheren Ort, wo wir uns gegenüberstehen können – ohne Angst und voller Vertrauen.
Doch was macht dich unruhig? Du verschränkst scheinbar ganz locker und doch irgendwie schützend deine Arme vor dir. Vielleicht willst du diesen Augenblick ganz bei dir bleiben. Nicht gehalten und nicht durch die Bewegung deiner Arme abgelenkt werden. Der sanfte Glanz der kräftigen Frühlingssonne glänzt auf deinem Haar. Der Wind spielt mit ein paar deiner rotgoldenen Strähnen. Wie verletzlich du auf mich wirkst. Möchtest du, dass ich dich an der Hand nehme? Sag es mir. Möchtest du, dass ich dich begleite?
Was du in dir trägst
Du hältst etwas in deiner linken Hand, die leicht untergeschlagen unter deinem rechten Oberarm ruht. Es könnte ein Brief sein. Von rascher Hand gefaltet. Bahnen sich deine Gedanken darin ihren Weg? Lose, beiläufig niedergeschrieben. Das Wesentliche passiert immer nebenbei. Und doch – wie viel greifbarer sind diese Worte im Vergleich zur Flüchtigkeit der Gedanken.
Was sich hinter deiner Stirn abspielt, verbirgt sich zugleich vor der Welt. Verbirgt sich vor mir. Was sich im Innern eines Menschen abspielt, kann die ganze Welt umarmen, aber auch verschlingen. Kann sie gestalten – und zerstören. Welche Welt umarmst du gerade in deinem Kopf? Gehöre ich dazu?
Und wenn nicht – wo liegt der Schlüssel zur Tür in der Mauer, die du um dich gebaut hast? Ich glaube, dahinter liegt ein wunderbarer Garten. Ein verheißungsvoller stiller Ort, in dem viele Blüten noch nicht geöffnet sind. Aber sie sind da. Bereit zur Entfaltung. Andere wiegen sich schon in der Luft, ihre weit geöffneten Kelche gefüllt mit glitzernden Tautropfen – kleine Seen, umfangen von dem zarten Hauch vielfarbiger Blätter, die ihr Nass als größten Schatz hüten.
Wasser bedeutet Leben. Bedeutet Gefühl. Alles fließt, zerfließt, verwandelt sich – und geht ineinander über. Deine Ideen gaukeln wie duftige Schmetterlinge durch die laue Luft. Sie müssen sich nirgends niederlassen. Sie gehören niemandem – nur dir.
Dein Schutz
Vielleicht ist es gar keine Mauer, die du gebaut hast. Vielleicht ist es ein Schutz. Dein Versuch, den wütenden Wind und das raue Wetter draußen zu halten – und die, die rücksichtslos alles niedertrampeln. Doch auch dieser Schutz kann nichts gegen dunkle Wolken ausrichten, die sich an deinem Himmel zeigen. Regen kann wohltuend sein. Hagel ist es nicht. Die Kühle eines frühen Morgens erfrischt – die schneidende Kälte des Winters lässt erschaudern.
Wenn ich dich jetzt anschaue, habe ich das Gefühl, du sehnst dich nach deinem Garten. Nach der Ruhe, die sich darin so wohlfühlt. Erinnerst du dich an die Geschichte vom Tod, der das Lied der Nachtigall hörte und plötzlich Sehnsucht nach seinem Garten verspürte? Ich habe sie dir erzählt, als du noch ein kleines Mädchen warst. Du warst so bewegt davon.
Der Ort in deinem Garten
Auch du hast einen Platz für den Tod in deinem Garten. Vielleicht hinten, beim blühenden Apfelbaum? Oder hast du ihm einen Platz im Zentrum deines Lebens gegeben? „Der Tod ist groß – wir sind die Seinen lachenden Munds – wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.“ – diese Worte von Rainer Maria Rilke klingen mir nach. Und ich frage mich: Was würdest du jetzt dazu sagen?
Komm, ich nehme dich in meine Arme und halte dich fest. Wir könnten noch ein großes Stück Weg gemeinsam gehen…
Der Augenblick der Erkenntnis
Doch da wird mir bewusst: Es bist nicht du, die da vor mir steht. Es ist ein Bild – dein Bild. Du bist gestorben. Und mir vorausgegangen in deinen Garten.
In mir öffnet sich eine Kluft. Ich drohe abzugleiten – ins Bodenlose, ins Dunkle. Und doch… ich blicke dir nochmals in deine wunderbaren, hellblauen Augen. Und für einen Moment, nur einen einzigen, scheint es, als würdest du mich direkt ansehen. Als würdest du mich berühren, meine Gedanken lenken. Es reicht – um zu erkennen, was du mir zeigen willst. Es ist der Schlüssel, nach dem ich so lange gesucht habe. Du zeigst mir den Weg in deinen Garten. Und auch wenn meine Zeit noch nicht gekommen ist – ich weiß nun: Du bist dort. Und du bist glücklich.
In meinem Herzen liegt der Schlüssel. In meinem Kopf die Bilder, die mich mit dir verbinden. Beides hat seinen Platz. Und es liegt an mir, diese Verbindung nicht abreißen zu lassen.
Was sich in Worte kleiden lässt, werde ich erzählen – den Menschen, die dich kannten. Und auch jenen, die dich noch kennenlernen möchten. Ich erzähle deine Geschichte.
Loslassen
Mit meinem Herzen spüre ich deinen Herzschlag – warm und gleichmäßig. Er verbindet unsere beiden Welten. Wenn meine Stunde kommt, wirst du es sein, die mich bei der Hand nimmt und mich über die Brücke in deinen Garten führt.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ – dieses Zitat von Hermann Hesse kommt mir in den Sinn.
Das hier ist ein Anfang. Unser Anfang eines neuen Zusammenseins, nicht wahr?
Nun stehst du wieder vor mir und lächelst mir ins Gesicht. Ich bin traurig. Aber ich bin auch ruhig. Und mit dir – tief verbunden. Und ich kann dich loslassen