Heute ist es richtig kalt. Lena und Marco stehen Schulter an Schulter in einer wartenden Gruppe von Skifahrern an der Talstation der Hochseilbahn. Sie stellen sich abwechslungsweise von einem Bein auf das andere, um sich ein wenig aufzuwärmen. Beim Ausatmen bilden sich kleine, weisse Wölkchen vor ihrem Mund. Rundherum erheben sich die majestätischen Gipfel der Berge. Es soll auf über 3000 Meter Höhe gehen. Das ist der perfekte Ort um Lena einen Heiratsantrag zu machen, das hat sich Marco fest vorgenommen. Nun hat er ein leicht simmerndes Gefühl im Bauch, wie er dies sonst nur bei Prüfungen kennt, bevor es losgeht. ‚Reiss dich zusammen‘, geht es ihm durch den Kopf und er schaut Lena ein wenig unsicher an, die voller freudiger Erwartung auf diesen Tag neben ihm steht.
Endlich kommt die Kabine. Leicht schwankend steht sie vor ihnen, als sich die Türen öffnen. Schon beim Einsteigen gibt es ein Gedränge. An diesem prächtigen Wintermorgen zieht es viele Menschen auf den Gipfel. Sie alle wollen der Sonne ein Stück näher sein und die Wärme auf ihrem Gesicht spüren. Marco bemerkt plötzlich wieder das altbekannte, bedrängende Gefühl der Enge in seiner Brust. Klaustrophobie. Er hatte es schon längere Zeit nicht mehr gespürt. Wann immer es möglich ist meidet er solche Situationen. Doch nun, von der Masse an Menschen förmlich gegen die Fensterfront der Kabine gepresst, fühlt er, wie sich langsam eine Panik in ihm breit macht.
‚Ob er mir heute wohl einen Antrag machen wird?‘ Lena muss lächeln. Marco war schon beim Morgenessen ein wenig nervös. Nur ein ganz klein wenig, aber sie hatte es bemerkt. Lena beobachtet ihn aufmerksam, wie er dicht umgeben von Menschen dasteht. ‚Ich liebe ihn‘, denkt sie und fühlt sich glücklich. ‚Schade, dass ich nicht neben ihm stehen kann.‘ Als sie einstiegen wurde sie von der Menschenmasse zur Seite gedrückt. Sie hatte keine Chance, sich ihren Weg zu ihm zu bahnen. Doch es ist zum Glück keine allzu lange Fahrt.
‚Ganz ruhig bleiben.‘ Marco versucht sich im Griff zu behalten. Er fühlt sich elend und ein Schauder läuft sein Rückgrat hinunter. Er konzentriert sich auf seine Atmung und versucht ganz regelmässig ein- und auszuatmen. In der Vergangenheit hatte ihm dies jeweils geholfen.
Mit einem kleinen Ruck setzt sich die Bahn in Bewegung. Die Distanz zwischen Boden und Kabine nimmt rasch zu. Bereits erreichen sie den ersten Trägermast und die Kabine gerät in leichte Schwingung. Die Menschenmenge quittiert das mit Lachen und Johlen und viele wippen extra noch mit, um der Kabine mehr Schwung zu geben. Die Menschen taumeln hin und her und schubsen sich gegenseitig an. Die Frau vor Marco verliert das Gleichgewicht und lehnt sich schwer an ihn. Sie lacht laut auf. Sein Herz fängt an zu hämmern und er versucht die Frau von sich wegzuschieben.
‚Er ist ein echter Gentleman‘, denkt Lena und schaut Marco stolz an. ‚Er hilft der Frau vor sich wieder aufrecht zu stehen.‘ „Ich liebe dich“, sie spricht diese drei Worte fast tonlos aus und formt jedes Wort deutlich mit ihren Lippen.
Marco hat nun wieder ein wenig mehr Platz. Doch das Atmen fällt ihm trotzdem schwer. Er fasst sich unwillkürlich an die Brust und versucht mehr Luft in die Lungen zu bekommen.
Als Lena sieht wie sich Marco mit ernstem Gesicht an sein Herz fasst, freut sie sich. ‚Er spürt die Liebe zu mir ganz intensiv.‘ Am liebsten würde sie ihn in die Arme nehmen. Doch dazu ist einfach kein Platz in dieser viel zu engen Kabine. Sie kann sich selber kaum bewegen und kann nicht zu ihm rüber gehen. Aber ihre Augen strahlen.
Marco bemerkt, dass er immer rascher und nur noch sehr oberflächlich atmet. Das darf nicht sein, er kommt sonst ins Hyperventilieren. ‚Ich werde das Bewusstsein verlieren‘, schiesst es ihm durch den Kopf. Ihm ist bereits leicht schwindelig. Marco schaut hilfesuchend um sich und klammert sich in den Blick von Lena, die ihn liebevoll ansieht.
‚Wie süss. Er schaut mir tief in die Augen und wirkt dabei ganz ratlos.‘
‚Hoffentlich bemerkt sie, dass es mir nicht gut geht.‘
‚Was wohl in seinem Kopf vorgeht? Vielleicht bereitet er gerade die Sätze für seinen Antrag vor.‘ Lena schenkt Marco ihr bezauberndstes Lächeln und schickt ihm einen Kuss über die Köpfe der Menschen hinweg, die dicht gedrängt zwischen ihnen stehen.
‚Zum Küssen ist mir jetzt definitiv nicht zumute.‘ Seine Beine drohen langsam wegzusacken und er versucht den Handlauf an der Kabinenwand zu greifen. Mit viel Mühe kann er mit einer Hand zwischen zwei dicht nebeneinanderstehenden Körpern durchgreifen und bekommt das kühle Stahlrohr des Handlaufs zu greifen. Wenigstens ein bisschen Halt.
‚Will er tatsächlich vor mir auf die Knie fallen, um seinen Antrag zu machen, damit all die Menschen sehen, wie sehr er mich liebt?‘ Lena ist hingerissen. „Du bist ein Schatz“, formt sie praktisch lautlos mit ihren Lippen. Das Stimmengewirr ist viel zu laut, als dass er sie hätte hören können.
‚Wo sind bloss meine Traubenzucker Bonbons?‘ Marco hält sich krampfhaft mit einer Hand fest. Mit der anderen fängt er an die Taschen seiner Winterjacke zu durchsuchen. ‚Ich brauche dringend einen Energieschub, um nicht vollends umzukippen!‘ Er durchwühlt alle seine Taschen.
‚Er sucht den Ring!‘ Lena durchfährt es wie ein Blitz. ‚Er wird ihn mir an den Finger stecken, sobald er mich gefragt hat. Wie romantisch.‘
‚Da sind sie.‘ Mit letzter Kraft schiebt sich Marco eines der Bonbons in den Mund und fängt gierig an zu lutschen. Ein widerlicher, künstlicher Orangengeschmack macht sich in seinem Mund breit. Egal, Hauptsache die Wirkung tritt rasch ein. Sie waren in derselben Jackentasche wie der Ring. Den hatte er beinahe vergessen. Hoffentlich kann er Lena den Antrag heute noch machen, so erbärmlich, wie er sich gerade fühlt.
Da plötzlich rammt sich etwas Kantiges in seine Kniekehlen und Marco knickt einfach ein. Instinktiv greift er nach vorne und bekommt einen Rucksack zu fassen, der seinen Fall aufhält. Der Mann, dem dieser Rucksack gehört, dreht sich wütend um und schnauzt Marco unwirsch an, der sich mühsam wieder aufrappelt. „Entschuldigung“, kann dieser nur stammeln. Als er nach links schaut, sieht er einen kleinen Jungen, der mit seinen Skiern kämpft. Immer wieder fallen sie ihm beinahe aus den Händen. ‚Das war es, was mich beinahe umgehauen hat.‘ Mit zornfunkelnden Augen schaut er den Kleinen an, so dass dieser erschreckt zusammenzuckt und sich an den Beinen seiner Mutter festhält, die ihm irritiert über den blonden Schopf streichelt. Dann schaut er zu Lena hinüber. Ob sie wohl etwas bemerkt hat?
‚Diese Leidenschaft in seinem Blick. Dieses Feuer‘, Lena freut sich über die Art, wie er sie anschaut. Sie fühlt sich begehrt. ‚Ich liebe sein Temperament‘.
Der nächste Trägermast ist da. Zuerst ein leichtes Anheben der Kabine und dann eine kurze, rasante Fahrt nach unten. Wieder grölen und johlen die Menschen um ihn herum. Marco dreht es beinahe den Magen um und er ringt nach Atem. Er öffnet den Mund und schnappt nach Luft.
Lena bemerkt, wie Marcos Lippen sich öffnen. ‚Jetzt will er es mir sagen‘, Lenas Herz schlägt ihr erwartungsvoll bis zum Hals und sie spürt, wie sich ihre Wangen röten.
In diesem Moment fährt die Hochseilbahn in die Gipfelstation ein und bleibt schliesslich leicht schwankend stehen. Die Türen öffnen sich zischend und eine laut plappernde, gut gelaunte Schar von Fahrgästen drängt sich durch die Öffnung. Marco wird einfach mitgezogen und stolpert nach draussen, rundherum eingezwängt von Menschen mit ihren Rucksäcken, Skiern, Stöcken und Skihelmen. Es erscheint ihm wie eine Ewigkeit. Dann taumelt er zum nächstgelegenen Geländer und lehnt sich erschöpft an. ‚Ich muss mich beruhigen‘, denkt er und schliesst seine Augen. Sein Herz hämmert harte Schläge, die er einzeln spürt. Er beginnt ganz bewusst und tief die frische, kalte Luft einzuatmen. Langsam verschwindet das Schwindelgefühl in seinem Kopf und die Übelkeit verfliegt allmählich. Marco öffnet unsicher seine Augen.
„Du musst mir nichts mehr sagen, mein Liebling.“ Lena steht direkt vor Marco und schaut ihm liebevoll in die Augen. „Meine Antwort ist ja.“
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		