„Sie ist es“, er schaute auf, direkt in die Augen des Pathologen, der neben ihm stand. „Es ist meine Tochter Anna.“ Der Pathologe deckte das Gesicht der Leiche wieder zu und Kriminalkommissar Weber räusperte sich kurz und fasste ihn dann mit einer Hand an der Schulter.
„Herzversagen. Eindeutig. Wir haben sie gestern in ihrem Haus gefunden. Damit ist für uns der Fall abgeschlossen. Das tut mir sehr leid, Beat“, sagte er. „Den Augenblick, dich wiederzusehen, habe ich mir anders vorgestellt.“
Beat Keller und der um einiges jüngere Kriminalkommissar Weber hatten früher zusammengearbeitet. Der erfahrene Beat sollte damals dem jungen Kollegen die Polizeipraxis näherbringen. Sie lösten einige knifflige Fälle gemeinsam, doch beste Freunde wurden sie nicht. Weber wollte immer Karriere machen und liess keine Möglichkeit aus, sich bei ihren Vorgesetzten zu profilieren. Beat stammte noch aus der „alten Schule“. Er war derjenige, der mit viel Geduld auf die Details achtete und sich Zeit liess, allen Indizien nachzugehen, um nichts zu übersehen. Weber dagegen wollte immer schnell zum Ziel kommen, machte dadurch aber Patzer und zog Fehlschlüsse. Doch am Schluss der Ermittlungen stellte es Weber immer als sein Verdienst dar und liess Beat schlecht aussehen. Es war nicht seine Art sich zu wehren und schliesslich wurde ihm dies zum Verhängnis. Seine letzten Dienstjahre musste er im Innendienst verbringen. Das war bitter für Beat und er begann zu trinken. Er verlor sich in dieser Sucht und war verzweifelt.
Er wusste sofort, dass etwas Schlimmes passiert war, als Weber heute Morgen vor seiner Tür stand. Doch ein Herzversagen bei Anna? Das konnte er einfach nicht glauben.
Nach der schmerzhaften Identifizierung im gerichtsmedizinischen Institut stand Beat bereits wenig später im Atelier seiner Tochter Anna und schaute sich um. Ihr einfaches Haus war etwas abseits vom Dorf am Waldrand gelegen. Doch Anna fühlte sich hier wohl.
„Hier kann ich mich als Künstlerin entfalten und bin ungestört.“
Das hatte sie ihm immer wieder gesagt. Auf der Staffelei stand noch ihr letztes Gemälde. Grossformatig, düster und wuchtig. Eine junge Frau. Sie liegt in einer Waldlichtung im Gras und scheint unruhig zu schlafen. Auf ihrer Brust sitzt ein furchteinflössender Nachtmahr, seine Krallen graben sich tief in das weiche, nackte Fleisch der gequälten Schläferin. ‚Warum hat sie bloss solche Bilder gemalt’, ging es Beat durch den Kopf, ‚das passt einfach nicht zu ihrem fröhlichen Wesen.‘ Aufmerksam betrachtete er das unheimliche Gemälde. Plötzlich hielt er inne. ‚Was ist das?‘ Er trat näher an die Leinwand heran. Im dichten Wald, im Hintergrund des Gemäldes, war ein kleiner Fuchs gemalt. Beat zog den Ärmel seines Pullovers nach hinten. Es erschien ein kleines Tattoo auf seinem Unterarm, das einen Fuchs darstellte. Dies war immer ihr Geheimzeichen gewesen, wenn es darum ging, dass der andere ein Rätsel lösen sollte. Der schlaue und listige Fuchs. Sie liebten dieses Spiel und die Herausforderungen, die damit verbunden waren. Diesbezüglich waren sie sich sehr ähnlich. An Annas 20. Geburtstag hatten sie sich gemeinsam dieses Tattoo stechen lassen.
„Was willst du mir mitteilen“, raunte Beat leise und begann jeden Zentimeter des grossflächigen Bildes mit Hilfe seiner starken Taschenlampe zu untersuchen. Unter der Figur des Nachtmahrs musste etwas verborgen sein. Er sah es ganz leicht durchschimmern. Vorsichtig schabte Beat die noch frisch aufgetragene Farbe mit seinem Taschenmesser ab. Tatsächlich, auf der Leinwand standen eine Telefonnummer und die Initialen ‚MS‘. Beat zückte sein Handy und tippte die Telefonnummer ein. Es meldete sich ein Telefonbeantworter. Eine männliche Stimme.
„Hier ist Marco Studer von der Kunstgalerie ‚Gothic Style‘ am Limmatquai. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht.“
‚Marco Studer. MS‘ dachte Beat, dann machte er sich auf die Suche. Er wusste, dass Anna immer akribisch Tagebuch geführt hatte. Dort würden sich bestimmt weitere Hinweise finden lassen.
Es war bereits Abend geworden, als Beat das Tagebuch zuklappte. Tief in Gedanken versunken versuchte er sich ein Bild davon zu machen, was geschehen war. Anna hatte Geld gebraucht. Sie wollte ihm damals helfen, als er dringend zu einer Entziehungskur musste. Sie wollte verhindern, dass er seinen Job verlor. So hatte sie sich an Marco Studer gewandt. Er gewährte ihr ein Darlehen, sie musste ihm aber dafür gefälschte Bilder malen. Alle im Stil von Johann Heinrich Füssli, dem Schweizer Maler, der bekannt für seine düsteren und mythologischen Bilder war.
„Und ich Vollidiot dachte immer, dass die Polizei die Kosten übernommen hätte. Mir ging es damals so mies, dass ich nicht nachgefragt hatte.“
Durch Annas Virtuosität entstanden perfekte Fälschungen und MS verkaufte diese geschickt und für viel Geld an Sammler. Er zwang sie, immer neue Bilder zu malen.
„Wenn du aufhörst, werde ich dich verpfeifen und du gehst ins Gefängnis“, hatte er ihr mehrfach gedroht.
Aus Angst hatte sie sich gefügt. Dieses grosse Gemälde sollte das letzte sein, das sie für MS malte. Danach wäre die Schuld abgezahlt gewesen. Doch sie musste einen Verdacht gehabt haben. Sie traute MS nicht. Beat legte fassungslos das Tagebuch zur Seite.
‚Das Bild ist fertig. Komm es abholen.‘
Nachdem Beat diese Nachricht mit dem Handy von Anna abgesetzt hatte, setzte er sich ruhig in das Wohnzimmer. Er wartete im Dunkeln. Er wusste, er würde kommen.
Knapp eine Stunde später hörte er, wie ein Wagen vorfuhr. Rasch stellte sich Beat neben das Fenster und schaute vorsichtig hinaus. Die Scheinwerfer des Wagens erstarben, eine massige Gestalt stieg aus und kam zum Eingang. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Die Gestalt war offensichtlich nicht zum ersten Mal hier. Als die Haustüre sich knarrend öffnete, verbarg sich Beat rasch hinter dem Vorhang.
„Anna, bist du da?“
Dieselbe Stimme wie auf dem Anrufbeantworter. Dann ging alles sehr rasch. Beat überwältigte den verblüfften Mann mit ein paar gezielten Griffen, die er aus seiner Krav Maga Ausbildung kannte. Dann fesselte er ihn mit ein paar Kabelbindern um die Hand- und Fussgelenke und richtete ihn an der gegenüberliegenden Wand in Sitzposition auf. Als dieser endlich realisierte was mit ihm passiert war, sah er direkt in den Lauf einer HK P30, die auf ihn gerichtet war.
„Das haben Sie alles ausser Acht gelassen, Weber?“
Der Kriminalhauptkommissar schüttelte ungläubig den Kopf. Marco Studer hatte gestanden. Er hatte Anna ein Set alter Pinsel samt einer gebrauchten Leinwand übergeben. ‚Um die Fälschung noch authentischer zu machen‘, hatte er zu Protokoll gegeben. Die Pinsel waren mit Rizin präpariert, einem hochgiftigen Protein, welches sein Opfer langsam vergiftet und schlussendlich tötet. Herzversagen. Es ist im Körper nur schwer nachweisbar. Anna hatte es ahnungslos über Mikroverletzungen ihrer Hände aufgenommen. Sie litt bereits seit ihrer Kindheit an Neurodermitis. Studer ertrug es nicht, dass Anna nicht mehr für ihn arbeiten würde. Er war vor Eifersucht auf ihr Talent zerfressen und wollte sie deshalb töten. Sie sollte niemals wieder malen.
„Melden Sie sich morgen bei der Personalabteilung, Weber“, sagte der Kriminalhauptkommissar zu dem Mann, der wie ein begossener Pudel vor ihm stand. „Sie werden bis auf weiteres im Innendienst eingesetzt. Ich bin so was von enttäuscht von Ihnen.“