DaFabula

Der Mann am Bahnhof

«Der Weg ist das Ziel», hiess es doch in einem Spruch, den ihm sein Lehrer immer wieder vorhielt, wenn er in seinem Übereifer wieder einmal vergessen hatte, dass auch eine Klasse nur als Team funktionieren kann. Damals verstand er den tieferen Sinn dieser Aussage nicht. Es hat ihn einfach nur genervt, ein oder sogar zwei Gänge runterzuschalten, zu warten, bis die anderen auch soweit waren. Für ihn war die Schule und das Lernen nie mit Mühsal und Stress verbunden. Das blieb auch so, bis hin zu seinem Studium an der ETH in Zürich. Doch danach kam vieles so ganz anders. Hatte er damals überhaupt eine Vorstellung über seine Zukunft, seinen Weg?

Nun stand er hier am Hauptbahnhof in Zürich, am Kopfende des Gleis 15, wo soeben der TGV Lyria 9206 nach Paris elegant und beinahe schwebend am Perron vorbeizog und in die hellblau frostige Kälte des frühen Morgens aufbrach. Die Reisenden waren noch nicht alle auf ihren Plätzen eingerichtet, verstauten ihr Gepäck in den dafür vorgesehenen Ablagen und setzten sich dann auf ihre Sitze. Es war noch eine gewisse Unruhe zu sehen, doch sie würde sich rasch verflüchtigen, sobald sich alle eingerichtet hätten. Noch standen die Begleiter an ihrem Platz auf dem Bahnsteig, teils mit zum Abschied erhobenen Händen, teils aber auch ganz reglos. Zumeist in kleinen Gruppen, oftmals Familienmitglieder, wie es ihm schien, aber einige auch alleine. Sie vereinte der Umstand, dass sie soeben jemanden hatten gehen lassen. Der Abschied von denjenigen, die sie hierher begleitet hatten, wurde durch die Distanz, den der Zug mit zunehmender Geschwindigkeit schaffte, spürbarer. Nun war er Realität, war ein Fakt und liess sich nicht mehr verdrängen. Auch für ihn und doch spürte er in diesem Augenblick nur eine Leere in sich und sein sonst so scharfer Verstand, hatte sich wie ein verunsichertes Tier zurückgezogen. Das war für ihn im Moment nicht relevant. Doch dass er nichts spüren konnte, irritierte ihn. Nicht dass er besonders viel Wert auf Gefühle legte, doch ein solcher Abschied, war er der Meinung, sollte sich doch in ihm bemerkbar machen. Irgendwie. Die Menschen auf dem Fahrsteig fingen an sich zu bewegen. Nur wenige wollten noch warten, bis der Zug ausser Sichtweite geriet. Einzelne blieben aber noch länger stehen, als wollten sie das unsichtbare Band durch keine Unaufmerksamkeit zerreissen lassen, das sie mit den Reisenden noch verband. Er musste lächeln, bei dieser Beobachtung. Wie sentimental Menschen sein können. Und doch beneidete er sie für einen Moment um ihre Fähigkeit ganz bewusst in der Gegenwart zu bleiben und scheinbar mehr zu spüren, als es ihm jemals möglich war. Etwas hatte begonnen, doch vielleicht hatte er bereits schon diesen Anfang verpasst. Was dann?

Nun kamen ihm die Menschen entgegen. Sie waren keine Begleiter mehr, sondern wieder Individuen, deren Absichten er nicht kannte. Gerade noch vor ein paar Minuten hatten sie etwas Gemeinsames. Nun waren alle wieder alleine unterwegs, in ihrer Welt, in ihrem Leben. «Was ist nun ihr Ziel?», dachte er und schaute dabei einigen direkt ins Gesicht. Sein Blick wurde kaum erwidert oder wenn, dann mehr mit einem erstaunten, fast ärgerlichen Ausdruck, als mit ehrlichem Interesse. Einige fühlten sich wohl ertappt. Ertappt dabei, dass sie zuliessen, dass ihre Gefühle auf ihren Gesichtszügen abzulesen waren. Die Maske war für einen Moment heruntergerissen worden. Das durfte nicht sein. Nur keine Schwäche zeigen. Das war auch wieder so ein Grundsatz, den er bereits als Kind eingetrichtert bekommen hatte. Sein Vater stand ihm nie sehr nahe. Er leitete das statistische Amt der grossen Stadt, wo sie damals lebten und war ein angesehener Bürger, den sie auf der Strasse grüssten, wenn sie einmal zusammen unterwegs waren. In seiner Welt war alles messbar, belegbar, greifbar. Für seinen Vater gab es darüber hinaus nichts. Nichts Metaphysisches, nichts Märchenhaftes und damit auch keinen Zauber, der einen in bestimmten Situationen berühren und auch beschützen konnte. Ein nüchterner, grossgewachsener Mann, mit Prinzipien, an denen er jeden mass. Auch seine Familie. An diesem Massstab scheiterten die meisten. Auch er. Das spürte er bereits als kleiner Junge, auch wenn es nie ausgesprochen wurde. Die Art, wie ihn sein Vater anblickte, mit seinen stahlgrauen Augen, die ihn aus dem immer säuberlich rasierten Antlitz fixierten, liessen ihn stets leicht erschaudern. Da lag keine Liebe in diesem Blick, kein Stolz in diesem Ausdruck und die Nähe, die ihm Zeit seines Lebens fehlte und nach der er sich gesehnt hatte, war unvorstellbar. Irgendwann hatte er dann resigniert. Er konnte nicht mehr länger um die Liebe seines Vaters kämpfen. Doch seinen Respekt wollte er sich verschaffen. In dieser Phase seines noch jungen Lebens wurde er anders. Er veränderte sich. Aus dem vormals verspielten Jungen, der oft seinen Träumen nachhing und der in allen Dingen mehr sah, als die meisten, wurde ein in sich verschlossener, zielstrebiger junger Mann. Das imponierte seinem Vater, davon war er überzeugt. Doch über den Preis, den er für diese vermeintliche Anerkennung bezahlen musste, war er sich damals nicht im Klaren. Als dann sein Vater starb, noch bevor er sein Studium begonnen hatte, war es bereits viel zu spät, um sich noch zu besinnen. Er war längst zu einem Abbild seines Vaters geworden, nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass er mit sich uneins war, es aber nicht bemerkte. Der Tod seines Vaters liess ihn seltsam unberührt. Seine Mutter aber lebte sichtlich auf. Es war ihm, als ob sie nach einer langen Zeit unter Wasser wieder an die Oberfläche kam, diese durchstiess und dabei die Sonne wieder erblickte, die ihre Lichttupfer auf den Wellen um sie herum verteilte. Sie nahm das Leben wieder wahr, lebte es wieder mit wachen Sinnen und wurde farbig dabei. In der Art wie sie redete, lachte und mit Menschen umging und in der Art, wie sie sich zu kleiden begann. Nie überbordend, immer mit einem untrüglichen Gespür für Stil und Eleganz, aber immer mit einer Farbpalette, die das Bunte ihres Wesens zum Strahlen brachte. Seine Mutter wurde wieder gesehen. Natürlich war sie schon immer da gewesen, konnte aber neben der Person ihres Mannes nicht in Erscheinung treten. Ihre Rolle war nicht existent, nicht vorgesehen im Leben dieses Mannes. Er benutzte sie und ermöglichte ihr ein – in seinen Augen – gutes Leben. Was sie selber wollte, interessierte ihn nicht oder besser, es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sie vielleicht etwas anderes gewollt hätte. Sie akzeptierte und erduldete diese Rolle stillschweigend. Sie verschwand neben ihm und kümmerte sich um ihr einziges Kind. Liebevoll und geduldig. Sie zeigte ihm eine Welt, die hinter der Kälte des Vaters existierte und die lebendig, bunt und voller Geheimnisse war. Diese Welt gefiel ihm und er fühlte sich dort geborgen. Das war wohl das Wertvollste, das er verlor, als er seinen aussichtslosen Kampf um die Anerkennung seines Vaters kämpfte. Und nicht nur das; er verlor damit auch den Zugang zu seiner Mutter. Die Welt, in der sie sich vorher so vertraut miteinander bewegt hatten, war für ihn zunehmend nicht mehr erreichbar und verschwand hinter grauen Mauern. Nur ganz selten noch wehte etwas Verheissungsvolles über diese Abgrenzung zu ihm herüber, versuchte sein Herz zu berühren und erlosch in dem Augenblick, wenn er realisierte, dass er sich nicht im Griff hatte. Er wollte es nicht mehr zulassen und spürte nicht, dass damit seine Grenzen immer enger an ihn heranrückten, ihn umschlossen und vom Rest der Welt entfremdeten.

Nun war sein Interesse geweckt und er beobachtete, was um ihn herum passierte. Er drehte sich um seine Achse und schaute in die grosse Bahnhofshalle am Ende der Gleise. Es war eine willkommene Abwechslung zu seinem ständigen Grübeln. Da waren die Geschäftsleute. Gut gekleidet, zumeist Männer, der Jahreszeit entsprechend in warme, dunkle Mäntel gehüllt, die raschen Schrittes und mit gesenktem Kopf die grosse Bahnhofshalle durchschritten und ihre Aktentaschen wie Schutzschilder neben sich hertrugen und ab zu auch einmal einsetzten, um ihren Weg frei zu machen. Wenn eine Frau mit dabei war, musste sie fast rennen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Bemerkten dies die Männer nicht? An ein oder zwei Säulen stand eine Gruppe quirliger Schüler. Sie schwatzten und gestikulierten. Jeder hatte etwas zu essen in der einen Hand und etwas zu trinken in der anderen. Schultaschen, in allen Grössen und Farben, lagen wild verstreut rund um die Gruppe auf dem Boden, so dass die Passanten ein wenig genervt im Slalom darum herumlaufen mussten. Es war kalt und zugig in der Halle und es bildeten sich kleine Wölkchen aus feuchter Atemluft, wenn die jungen Menschen miteinander sprachen. Der Lärmpegel in der Halle war aber zu hoch, als dass er etwas hätte verstehen können. Doch es musste amüsant sein. Immer wieder lachte die ganze Gruppe gemeinsam. Irgendwie musste es ein gutes Gefühl sein, dazu zu gehören und mitzulachen. Ärgerlich über diesen Gedanken verzog er kurz das Gesicht. Nun sah er, dass auch einige der Menschen ihre Hunde mit dabeihatten, wohl auf dem Weg zum nahegelegenen Park am Limmatufer. Die Hunde liefen mit aufmerksamen Blicken nebenher, konzentriert darauf bedacht nichts zu verpassen. Nur ab und zu scherte einer von ihnen aus und wollte bellend zu einem Artgenossen, was aber meist damit endete, dass sie an der straff gespannten Leine heftig zurückgezogen wurden. Dies waren keine Reisenden und die grosse Halle wurde nur möglichst rasch durchschritten, um wieder nach draussen zu gelangen. Bisher hatte er seine Aufmerksamkeit nur auf die eilig schreitenden, hektischen oder die lauten, raumgreifenden Menschen gerichtet. Doch nun bemerkte er, dass es auch noch eine ganz andere Gruppe gab. Alte Menschen, die sich ein wenig ängstlich oder auch unbeholfen bewegten. Tunlichst darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen. Oft gingen sie als Paar, in sehr ähnlichem Stil gekleidet, in gedeckten Farben, wie um auch dadurch nicht aufzufallen. Viele dieser Paare gaben sich gegenseitig Halt, hatten sich bei ihrem Partner eingehakt oder hielten sich an den Händen. Ein Halt im Hier und Jetzt und vielleicht auch der Halt, der ihnen ihr Zusammensein über all die gemeinsamen Jahre hinweg geschenkt hat. Miteinander und füreinander da sein auf dem Weg durch ein ganzes Leben. Ihre Gesichter waren der Spiegel eines gelebten Lebens und manch einer trug ein Paar blitzender Augen, das auf einen wachen Geist schliessen liess. Es gab gutmütige Gesichter aber auch verhärmte, glanzlose und strahlende, ausdrucksvolle und solche, die von den Zeiten, die sie bereits durchlebt hatten, verbraucht und anonym geworden waren. «Welche Art der Lebensführung wohl das eine oder das andere befördert…», dachte er, als er diese Unterschiede registrierte. Das Alter lässt keine Geheimnisse mehr zu, dazu fehlt früher oder später die Kraft. Viele Menschen haben während ihres ganzen Lebens zu viel ihrer Kraft für ihre Fassade verbraucht und konnten nun hinter dieser Fassade sich selber nicht erkennen. Es machte ihn nachdenklich, denn auch er wusste nicht wirklich, wer er eigentlich war.

In den ersten Jahren nach dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte sich so vieles in seinem Elternhaus verändert. Da er immer noch mitten im Studium stand, wohnte er noch zu Hause in der kleinen Einliegerwohnung im ersten Stock des Hauses. Er mochte dieses Haus nie besonders und es war ihm stets ein wenig farblos vorgekommen. Er war hier aufgewachsen. Mehr nicht. Doch schon ein paar Tage nach dem Begräbnis kam es zu ersten Veränderungen. Seine Mutter begann die Zimmer neu zu gestalten, verschiedene Möbel liess sie abholen und entsorgen, neue kamen angeliefert. Jedes Zimmer bekam seine eigene Farbe, die sich in den Accessoires, den Vorhängen und manchmal sogar im Anstrich einzelner Wände zeigte. Blumen standen auf dem Esstisch und die Luft war ständig von leiser, klassischer Musik erfüllt. Oftmals waren es Klavierkonzerte von Chopin, dann wieder Debussy oder Mahler. Seine Mutter wollte als junges Mädchen selber Pianistin werden und sie träumte davon, durch die Welt zu reisen und Konzerte zu spielen. Leider kam es nie dazu, als sie viel zu früh den Mann vorgestellt bekam, den sie später heiraten sollte. Ihre Eltern waren im Gegensatz zu ihr überglücklich über diese Verbindung. Doch die Liebe zu der Musik hatte sie all die Jahre in ihrem Innern wachgehalten. Auch im grossen Garten hinter dem Haus fanden Veränderungen statt. Blumen und Büsche wurden gepflanzt wo vorher nur ausdrucksloser, kurzgeschnittener Rasen war. Alles um ihn herum erwachte auf wunderbare Weise zu einem neuen, bunten Leben und es kam ihm vor als würde die Welt auf einmal wieder zu ihm sprechen. Doch er liess diesem Gefühl keine Kraft. Seine Mutter schaute ihn manchmal bei ihren gemeinsamen Abendessen mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitgefühl lange an. «Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters, sagt man. Aber du musst es zulassen. Versuche Deinen Weg zu finden. Du brauchst niemandem zu gefallen und es wäre fatal nicht der Mensch zu sein, der du wirklich bist, denn alles was um dich herum passiert, passiert nur gerade in diesem Augenblick und kommt nicht wieder», sagte sie eines Abends, als sie sich lange schweigend gegenübersassen. Sie legte dabei sanft ihre Hand auf seinen Unterarm. Eine Geste, die ihn berührte. Am liebsten hätte er sich in den Arm nehmen und trösten lassen, wie damals, als er sich als Kind nach einem Sturz oder einem Streit immer in die Sicherheit dieser beiden Arme hatte flüchten können. Warum liess er es heute nicht mehr zu? Wieder spürte er diese Sehnsucht nach Nähe.

Nun sah er eine Gruppe Kinder. Vielleicht acht oder neun Jahre alt. Eine ganze Schar in ihren bunten Windjacken stand unter dem grossen Treffpunktzeichen mitten in der mächtigen Bahnhofhalle. Jedes Kind hatte einen Schlitten mit dabei und als die Lehrerin eintraf wurde sie lauthals begrüsst. Es war wohl ein Ausflug auf den nahegelegenen Uetliberg geplant. Die Freude war den Kindern in ihre Gesichter geschrieben, als sie zusammen mit der Lehrerin die Treppe runterliefen um den nächsten Zug zu erreichen, der sie auf den verschneiten Gipfel bringen würde. «Es sind die kleinen Dinge im Leben, die zählen und die Freude machen», dachte er und schaute ihnen nach.

Dann kam der Moment, an dem sich alles ändern sollte. Seine Mutter hatte ihn nach dem Abendessen gebeten noch einen Moment bei ihr zu bleiben. Er mochte eigentlich nicht bleiben, da er sich noch vorbereiten wollte auf eine Prüfung, die er schon bald absolvieren musste. Doch er merkte an der Eindringlichkeit ihrer Frage, dass es wichtig war. Sie öffnete die alte Holztruhe, die neben der Anrichte stand, nahm eine Schachtel hervor und legte sie vor sich auf den Tisch. Darin waren viele Briefe und Postkarten aufbewahrt. Allesamt trugen sie eine schöne geschwungene Schrift. Sie begann zu erzählen. Eine Geschichte, die sie weit in ihre Jugend zurückbrachte. Die Geschichte von einem jungen Mann, der wie sie damals Klavierunterricht nahm. An derselben Schule, in dem kleinen Vorort von Zürich, wo sie damals beide lebten. Immer wieder trafen sie sich und mit der Zeit entstand eine tiefe Freundschaft, die sich über die Musik und ihren Traum von der Welt definierte. Sie standen sich nahe, waren aber zu der damaligen Zeit weit davon entfernt etwas anderes als bloss Freunde ineinander zu sehen. Ihre Freundschaft war noch keine zwei Jahre alt, als seine Familie wegzog. Nach Frankreich, wo sein Vater die Firma seiner Eltern übernahm. Doch über alle die Jahre blieben sie in Kontakt. Sie schrieben sich Briefe und Postkarten. Es kam für sie beide nichts anderes in Frage. Keine eMail, keine Kurznachrichten. Nur echte, handgeschriebene Briefe. Eine Vorliebe, die sie beide hatten. Dadurch konnten sie ihre Lebensläufe aus der Ferne mitverfolgen und konnten beide sehen, dass ihr Leben eine so ganz andere Richtung nahm, als sie es sich damals ausgemalt und erhofft hatten. Sie wurde zu einer unscheinbaren Frau an der Seite eines Mannes, der sie nicht in ihren Qualitäten erkennen konnte und er wurde Jurist, weil er damals nicht wusste, was er anderes hätte studieren sollen, als ihn sein Vater fragte. Aber es gefiel ihm nicht, was er machte. Die Streitereien von anderen Menschen vor Gericht zu vertreten war nicht sein Lebenszweck. Das wusste er und konnte es trotzdem nicht ändern. Er hatte nie geheiratet, hatte nie das Bedürfnis dazu verspürt. Es hatte einfach nie gestimmt, wenn er mit jemandem zusammen war. Und dann hatte seine Mutter sich eines Tages ein Herz gefasst und ihn angerufen. Einfach so, ohne vorherige Absprache. Aus einem zaghaften ersten kurzen Austausch entstanden lange und tiefe Gespräche. Ganze Abende lang hatten sie sich unterhalten und mit Staunen entdeckt, wie viel sie sich zu erzählen hatten und wie gut es sich anfühlte, wenn der andere zuhörte. Beide waren nun in einem Alter, wo sie noch einmal etwas wagen konnten oder vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben etwas wagen würden. Etwas Neues beginnen. Gemeinsam etwas Neues beginnen, um so herauszufinden, ob ihr Weg ein gemeinsamer sein sollte. So entstand der Plan, den ihm seine Mutter an diesem Abend eröffnete. Dass sie nach Paris fahren würde, um ihn dort nach all den Jahre im Gare de Lyon zu treffen. Von dort aus würden sie weiterreisen zu den ganz grossen Opernhäusern und Konzertsälen dieser Welt. Sie würden sich von ihrer gemeinsamen Liebe zu der Musik treiben lassen und sich eine Chance geben und sehen, was daraus entsteht. «Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht, sagt man und ich habe mich mein halbes Leben lang nicht bewegt. Nun ist die Zeit gekommen, dies zu ändern», waren ihre abschliessenden Worte. Für ihn würde sich nichts ändern. Er könnte im Haus bleiben und einfach so weitermachen, wie bis anhin.

Nur drei Tage später stand er nun hier am Hauptbahnhof. Als sie ihn zum Abschied in die Arme nahm bevor sie in den TGV einstieg, fühlte er wieder den kleinen Jungen in sich. Eine Durchsage, die mit blecherner Stimme über seinem Kopf in die Bahnhofshalle hinausschallte, riss ihn aus seiner Nachdenklichkeit. In diesem Augenblick wusste er, dass auch er sich bewegen musste. Auch er musste seine Fesseln sprengen, etwas ändern. Alle diese Menschen um ihn herum waren in Bewegung. Alles ist in Bewegung auf dieser Welt. Das Ziel ist nicht wichtig, sich auf den Weg zu machen und auf dieser Reise vom Leben zu lernen, das ist es, was zählt.

Wer an diesem Morgen zufällig einen Mann am Kopfende des Gleis 15 beobachtete, der hätte vielleicht gesehen, wie sich in wenigen Minuten eine ganz Welt in seinem Innern abspielte und wie eine Verwandlung vor sich ging, die sich in ganz kleinen Gesten zeigte. Einer Haltung, ein wenig aufrechter als zuvor, den Kopf ganz erhoben, mit einem entschlossenen Ausdruck im Gesicht, welches vorher noch so unbewegt war. Dieser Mann hätte einem beim Vorbeigehen interessiert und wach in die Augen geblickt und gegrüsst, bevor er mit sicherem Schritt weitergegangen wäre. In diesem Augenblick hätte der Beobachter gespürt, dass dieser Mann eine Entscheidung getroffen hat.

 

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