DaFabula

Der Mönch

„Was nun?“, fragt sich Beat und steht fröstelnd im Dunkeln vor den Umrissen eines kleinen Hauses, wo er das leise Summen eines Automaten hört. Er fühlt sich in diesem Moment als einsamster Mensch auf der Welt. Eigentlich wollte er nur für einmal etwas tun, was niemand ihm zugetraut hätte. Seine Frau nicht und auch nicht seine beiden halbwüchsigen Kinder, die ihn immer wieder darauf aufmerksam machten, wie uncool er sei. Sein Leben war auch nicht gerade eine Anreihung von Abenteuern und Erfolgen. Schon eher eine Anhäufung von Pleiten, Pech und Pannen. Dabei versuchte er doch stets, das Beste zu tun und geriet dabei immer wieder einmal in verzwickte Situationen. Was hatte er nicht alles für grosse Träume und Pläne gehabt. Was war daraus geworden? Ein Leben als Buchhalter, eine Ehe, die schon längst zu einer öden Zweckgemeinschaft geworden ist und zwei Kinder, die ihn nicht respektierten. Mit Doris, seiner Frau, konnte er sich nicht austauschen. Nicht mehr. Sie sah ihn nur kalt und nüchtern an, wenn er mit ihr das Gespräch suchte und gab ihm damit zu verstehen, wie absolut unwichtig jedes seiner Themen für sie war. Früher war dies noch anders gewesen. Damals, als sie ganz jung geheiratet hatten. Danach ging es schleichend bergab und das grosse Schweigen begann. Die Kinder waren zuerst noch etwas, was sie gemeinsam hatten. Ein gemeinsames Ziel. Doch auch hier verlor er bald den Anschluss. Alles um ihn herum veränderte sich so rasch und nun, anfangs fünfzig, hatte er das Gefühl schon bald vollends abgehängt zu sein. Nun ist auch noch seine Firma, ein mittleres Schweizer Industrieunternehmen, von einem grossen japanischen Konkurrenten übernommen worden. Das ist nun sechs Monate her und seitdem blieb praktisch kein Stein auf dem andern. Es gab viele Abgänge und die meisten seiner früheren Kollegen wurden ersetzt. Nur weil er schon so lange mit dabei war (mittlerweile über 30 Jahre), konnte er bleiben. Sein Wissen über die Abläufe war in diesem Moment wichtig, brachte Stabilität und ein gewisses Mass an Sicherheit, dass der laufende Transformationsprozess erfolgreich sein konnte. Doch es verunsicherte ihn sehr, plötzlich all diesen Neuerungen ausgesetzt zu sein. Er fühlte sich überfordert. Auch diese Reise hierhin nach Osaka in Japan, wo er am Firmensitz auf der neuen, internationalen Buchhaltungssoftware geschult wurde, war für Beat kein Grund zur Freude. Reisen hatte ihm nie Spass gemacht. Das Kennenlernen von anderen Ländern und Kulturen gehörte nicht zu seinen grössten Interessen. Doch dann erinnerte sich Beat daran, dass einer der Lieblingsfilme seiner beiden Jungs, ‚The Last Samurai‘ zu einem Teil im Shoshazan Engyoji Tempel spielte. Tom Cruise überzeugte in der Hauptrolle und die beiden Jungst eiferten ihm seither als ihr Vorbild nach. Als Beat bei seiner Ankunft auf dem Flughafen von Osaka auf einem grossen Bildschirm diesen Tempel sah, fiel ihm dies wieder ein. «Erleben Sie den Sonnenaufgang auf dem Shosha Berg», hiess es dort in grellen Buchstaben auf Englisch. Das wollte er machen und damit seinen Jungs beweisen, wie cool ihr Vater sein konnte. Ganz alleine hatte er sich heute Morgen früh um 3 Uhr vor seinem Stadthotel in ein Taxi gesetzt und die Worte ‘Shoshazan Engyoji Tempel’ dem Fahrer auf seinem Handy Display hingestreckt. Wortlos fuhr dieser los in die dunkle Nacht. Nach einer Weile liessen sie die eindrückliche Skyline von Osaka hinter sich und fuhren auf einer unbeleuchteten Strasse weiter. Nach etwa 1.5 Stunden Fahrt stoppte der Fahrer abrupt. Beat zahlte und stieg aus. Das Taxi fuhr weg und er schaute dem Auto noch lange nach, bis die Rücklichter nicht mehr zu erkennen waren.

Beat macht einen Schritt auf das Haus zu, wo er einen Ticketautomaten vermutet. Schliesslich will er mit der Seilbahn auf den Shosha Berg hochfahren. Die Deckenlampe fängt sofort an zu leuchten. Zuerst noch flackernd und elektrisch knisternd. Dann steht er in einem gleissenden Lichtkegel. Vor sich einen glänzenden Bildschirm, mit Pokemon Figuren in allen Farben und einigen Schriftzeichen auf Japanisch. «Ausgerechnet diese idiotischen Figuren», schiesst es ihm durch den Kopf. Seine beiden Jungs verbrachten eine Unmenge von Zeit mit ihren Videospielen, wo genau diese Figuren immer mit dabei waren. Er mochte sie nicht. Das wussten auch seine Kinder und sie verhöhnten ihn deswegen immer wieder als fürchterlich altmodisch. Doch es nützt nichts. Das war offensichtlich der einzige Ticketautomat und kein Mensch war zu sehen. «Warum ist bloss noch keiner hier?», geht es ihm durch den Kopf. Er drückt mit dem Zeigefinger wahllos auf ein paar der Pokémon Figuren. Bei jeder Berührung fangen sie sich sofort an zu bewegen und plappern los. Natürlich auf Japanisch. «Na toll…», und er fühlt, wie sich eine Resignation in seinem Innern breit macht. Plötzlich flackert die Deckenlampe nochmals kurz und geht aus. Beat steht im Finstern, seine Augen können nichts mehr wahrnehmen. Es braucht einen Moment, bis seine Pupillen sich geweitet haben. Nun sieht er einen schwachen Lichtschein, der eine Gestalt umgibt, welche sich langsam auf ihn zu bewegt. Instinktiv möchte Beat sich verstecken. Doch es ist zu spät, die Gestalt steht bereits im Eingang des kleinen Häuschens. Es ist ein Buddhistischer Mönch, angetan in den traditionellen Kleidern in warmen Orange- und Rottönen. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. Um seinen Hals hängt eine feingearbeitete Goldkette mit einer offenen Buddha Hand als Anhänger, dem Symbol für die Energiefelder des Körpers und die fünf menschlichen Sinne. Es geht eine unbeschreibliche Ruhe und ein Gefühl des Friedens von diesem Mann aus. Seine Augen sind dunkel und sein Blick schaut ruhig in die Augen von Beat. Kein Wort verlässt die Lippen dieses Mönchs und trotzdem weiss Beat ganz genau, dass er nichts zu befürchten hat und dass er ihm folgen soll. Sie gehen gemeinsam hinaus auf den kleinen Platz und dann auf einen schmalen Weg, der steil den Berg hinaufführt. Absolute Dunkelheit umfängt die beiden Männer. Nur noch dieses zarte, schimmernde Licht, das den Mönch umfängt, bleibt, der nun vor ihm mit raschem Schritt vorausgeht. Doch ist «Schritt» das richtige Wort? Die nackten Füsse des Mönchs scheinen den Boden fast nicht zu berühren. Wenn Beat über das Wurzelwerk, das den Weg überzieht, stolpert, schwebt der Mann vor ihm förmlich darüber hinweg. Der dichte Wald, der sie umgibt, wispert geheimnisvoll und mehr als einmal hat Beat das Gefühl beobachtet zu werden und leise Stimmen zu hören. Er hat jedes Zeitgefühl vergessen und als sie schliesslich auf dem Gipfel des Shosha Bergs ankommen, steht Beat staunend vor der gewaltigen Kulisse des Shoshazan Engyoji Tempel, der vor mehr als 1000 Jahren erbaut wurde. Zarte Nebelschleier huschen an den Mauern vorüber und verhüllen sie zum Teil. Die Luft ist kühl und voller würziger Düfte aus dem Wald. Der Mönch lächelt ihm zu und deutet auf das eindrückliche Eingangstor. Dahinter zeigt sich der grosse Platz, den Beat sofort wiedererkennt. Hier wurden einige Szenen aus dem Film mit Tom Cruise gedreht. Doch jetzt bewegen sich fünf Gestalten über diesen weitläufigen Platz. Jede von ihnen eingehüllt in sanftes Licht, das in verschiedenen, zarten Farbtönen changiert. Es sind fünf Mönche, die jeder für sich einen der menschlichen Sinne und dessen Bedeutung für das Leben der Menschen verkörpert. Die Aura, die sie umgibt, ist voller Ahnung und zugleich voller Erkenntnis. Die fünf Mönche stehen nun ganz nahe, geben sich die Hände und bilden damit einen Kreis um Beat, der fasziniert in ihrer Mitte steht. Gebannt und bewegungsunfähig. Die weiten Gewänder der Mönche sind schlicht und in verschiedenen Farben gehalten. Ihre Gesichter strahlen Ruhe und Gelassenheit aus. Doch tief in ihren Augen funkelt es kraftvoll. Nun beginnt eine stille Reise. Ein Mönch nach dem anderen schaut Beat direkt in die Augen, währenddem die anderen in ein monotones, tiefes Summen einfallen. Beat versinkt in diesen Blicken, geht darin auf, verliert sich vollständig und taucht ein in eine ihm unbekannte Welt. Uraltes Wissen und die Erfahrung von vielen vergangenen Generationen durchfliessen ihn. Bilder gehen auf und Gefühle bahnen sich ihren Weg. Beat versteht wortlos, was man ihm mitteilt. Er lässt sich darauf ein, geht mit auf diese Reise, beschenkt und geweitet. Als auch der fünfte Mönch sich mit ihm verbunden hatte drehen sich die Gestalten wie auf ein lautloses Kommando um und überqueren wortlos wieder den weiten Platz, bevor jeder in ein eigenes Tor eintritt und verschwindet. In diesem Augenblick erscheint die Sonne am Horizont. Ihr warmes, goldenes Licht überflutet zuerst die Mauern und fliesst über den Platz, um schliesslich Beat zu erreichen. Der Mönch, der ihn mit auf den Berg genommen hatte, steht ruhig an seiner Seite. Seine Augen schauen ihn mit einem sanften Lächeln an und er nickt ihm zu. Beat fühlt sich mit sich und seinem Leben versöhnt. Er hat das Gefühl, dass er nun so viel mehr weiss, über sich, die Menschen und den Weg, den jeder zu gehen hat. In diesem Augenblick fühlt er sich glücklich und schliesst kurz seine Augen. Als er sie wieder öffnet, ist der Mönch weg und Beat ist von vielen Touristen umgeben, die sich plaudernd auf dem Platz und in den Tempelgebäuden bewegen. «Woher sind diese Menschen gekommen und wo ist der Mönch?» Beat erwacht wie aus einer Trance und schaut sich um. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel und es ist heiss geworden. Fast ein wenig taumelnd geht er über den Platz, schreitet durch das grosse Eingangstor und steht wieder draussen vor der Tempelanlage, hoch auf dem Berg Shosha. Vor ihm steht ein kleines Häuschen mit einem Ticketautomaten, wo ein Junge davorsteht. Der dreht sich strahlend um, schaut zu seinem Vater hoch und sagt: «Schau mal, Papa, das sind alles Pokémon Figuren. So cool! Und hier ist auch das Sprachen Pokemon», der Junge drückt auf die Figur und ein kleines Auswahlmenü öffnet sich. Der Junge drückt auf «Deutsch» und sofort beginnt die Pokémon Figur in glasklarem Deutsch zu sprechen: «Bitte gehen Sie auf die Startseite des Programms und berühren Sie das Haus Symbol auf dem Bildschirm. Sie können nun auf dem Eingabefeld den gewünschten Zielort eingeben. Daraufhin sehen Sie die möglichen Verbindungen. Sie wählen die gewünschte aus und erhalten die Angebote dazu…“ Beat muss lächeln. „So übel sind diese Figuren doch gar nicht. Ich muss sie wohl einfach kennenlernen.“ Beat nimmt sich vor, sich alles über Pokémon Figuren von seinen beiden Jungs erklären zu lassen, wenn er wieder zuhause ist. Er spürt, wie viel er verpasst hat und wie vieles es in seinem Leben noch zu entdecken gibt. Aber er weiss auch, dass er noch genug Zeit hat. Er muss es nur wollen, sich nicht verstecken und sich öffnen. Sich, den anderen Menschen gegenüber und seinem Leben. Ein unbändiges Gefühl der Freude durchströmt ihn und er weiss, dass er nochmals ein ganz neues Kapitel in seinem Leben aufschlagen und so vieles anders machen kann. Doch was war mit ihm geschehen? War es überhaupt geschehen oder hatte er einfach nur geträumt? Beat ist verwirrt. Es hat sich alles so echt angefühlt und war zugleich so irreal. Er macht nachdenklich einen Schritt auf den Ticket Automaten zu. Er möchte ein Ticket für die Rückfahrt, denn er fühlt sich so müde, wie schon lange nicht mehr und er weiss ja jetzt, wie man mit diesem Automaten umgehen muss. Als er sich über den Bildschirm beugt um die Pokémon Figuren besser sehen zu können, sieht er etwas im Spiegel des Glases aufblitzen. Er greift an seinen Hals. In seiner Hand blitzt der Buddha Anhänger im Sonnenlicht, der an einer fein gearbeiteten Goldkette um seinen Hals hängt.

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