DaFabula

Die Reise

‘Wie zart und zerbrechlich ihre Hand geworden ist‘, dachte Marco und betrachtete die kleine, faltige Hand, die in seiner ruhte. Dunkle Venen zeichneten ein Mosaik auf dem blassen Handrücken. Die Haut sah aus wie Pergament. Ein viel zu dünner Arm verschwand im Ärmel einer gestrickten Wolljacke.

Endlich, nach einem langen Winter, lag heute wieder etwas Frühling in der Luft. Sie waren draussen im kleinen Park. Die ersten Blüten zeigten schüchtern ihre Farben und die Bäume schmückten sich mit hellgrünen Blattknospen. Unter einem Berg von Decken waren die Konturen eines schmalen Körpers zu erkennen, der zusammengesunken in einem Rollstuhl sass. Alles schien übergross zu sein. Er blickte in ein ängstliches Augenpaar, das immer noch sein tiefes Blau besass und die Frage kam wieder, die er in dieser kurzen Zeit so viele Male gehört hatte: „Warum bin ich hier?“

In seinen Gedanken sah Marco sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er sah eine hübsche Frau, die gerade den frisch gebrühten Früchtetee in einen grossen Steingutkrug umgoss. Dann stellte sie das erhitzte Gefäss in das Waschbecken in der Küche und liess kaltes Wasser einlaufen. Er hörte das leise Plätschern und sah goldene Lichtreflexe der Sonne auf der Wasseroberfläche tanzen. Es war Sommer. Sie würden ihr Mittagessen mitnehmen und zusammen an den See gehen. Die Zeit würde träge vergehen, erfüllt von unbeschwertem Kinderlachen, Freiheit und Lebensfreude. Er musste lächeln. Dann begann er zu erzählen. Die Züge der Frau, die ihm zuhörte, entspannten sich. Sie schien sich zu erinnern. Doch plötzlich kam die Unruhe zurück. „Wo bin ich und wer sind diese Menschen“, fragte sie erschreckt, wie aus einem Traum erwacht. Ihr Blick hastete haltlos umher. ‚Ob sie die Gesichter der Pfleger nicht erkennt?‘ Sie schienen ihr fremd zu sein. Er fing ihren Blick ein und begann behutsam wieder zu erzählen. Diesmal von dem mächtigen Wald, den sie so oft durchschritten hatten und dessen Baumkronen eine riesige Kathedrale formten. Es war kühl und still und wenn man eintrat fühlte man sich willkommen. Die kleine Hand, die zuvor zu einer Faust verkrampft war, entspannte sich wieder. Sie beide reisten zurück in der Zeit, waren sich nah, erlebten sie neu. Dann wieder ein Aufschrecken. „Warum bin ich hier“, ihre Lippen bewegten sich kaum, ihre Stimme war nur ein leises Flüstern, „du bleibst doch noch?“ Nun umklammerten die schmalen Finger seine Hand und sie schaute ihn ängstlich an. ‚Erstaunlich, wie viel Kraft sie hat.‘ „Ich bleibe noch ein paar Geschichten lang bei dir“, entgegnete Marco mit ruhiger Stimme und küsste sie sanft auf die kühle, gefurchte Stirn. Dann fuhr er fort mit seinen Erzählungen.

Eine weitere glückliche Stunde reisten sie gemeinsam durch ihre Vergangenheit, lachten, weinten, genossen das Zusammensein. Sie begegneten aber auch den dunklen Momenten, die sich ihnen nun auf eine neue Art offenbarten. Ihre einstige Unverständlichkeit hatte sich zu Erkenntnis gewandelt. Alles hat Sinn, wenn man nochmals hinschaut. Die Zeit hatte den Schmerz genommen. Dann kam wieder die Frage: „Du bleibst doch noch?“ Unterdessen war es kühler geworden. Die Frühlingssonne hatte ihre Kraft grosszügig an sie verschenkt. „Du bleibst doch noch?“ Marco nickte und lächelte sie an. Dann stand er auf und hob den schmalen Körper unendlich vorsichtig aus dem Rollstuhl empor. ‚Wie leicht sie geworden ist.‘ Er spürte wie sich ihre zwei dünnen Arme um seinen Hals legten und wie sich ihr Kopf weich an seine Brust bettete. Mit langsamen Schritten ging er auf das grosse Gebäude zu. Später, in ihrem Zimmer, legte er den Körper der Frau auf das Bett und deckte sie warm zu. Sie war nicht aufgewacht. Ihr Atem ging leicht und regelmässig. Ihr Gesicht, das von einem feinen Faltengespinst überzogen war, hatte einen entspannten Ausdruck angenommen. Zärtlich strich er ihr eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann betrachtete er gedankenversunken ihre Züge. Er spürte eine friedliche Stimmung. Was für ein Gegensatz zu dem nüchternen Zimmer. Bevor er ging küsste er sie nochmals sanft auf die Stirn.

Tief in der Nacht läutete sein Handy. Marco nahm es schlaftrunken ans Ohr. „Ihre Mutter ist gestorben. Sie ist nicht mehr aufgewacht und…“, tönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Doch Marco hörte schon nicht mehr hin. Er fühlte sich ruhig. Er wusste, dass es gut war, wie es war. „Auf Wiedersehen, Mama“, sagte er leise, „nun bist du mir vorausgereist.“ Dann legte er auf.

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