Edith ist aufgeregt. Heute ist endlich der grosse Tag und am Abend wird sie an der Weihnachtstombola von ihrem Kirchenchor mit dabei sein. Bereits Monate zum Voraus war der Vorstand des Vereins emsig damit beschäftigt Sponsoren zu finden, die attraktive Preise spenden sollten. In der kleinen Vorstadt, wo Edith wohnt, ist diese Veranstaltung zu einem festen Höhepunkt im jährlichen Veranstaltungskalender geworden und die Einwohner freuen sich darauf. Es ist das Gesprächsthema und wo immer man sich auch trifft, sei dies im Supermarkt, dem Postamt oder auf dem Spielplatz, wo die Eltern ihre Kinder hinbringen, wurde nur noch darüber gesprochen. In diesem Jahr noch viel mehr, denn der Hauptpreis war eine traumhafte Kreuzfahrt in die Karibik. TUI feiert das 20-jährige Bestehen seiner Filiale am Marktplatz und steuerte deshalb diesen attraktiven Preis bei. Das war gut investiertes Geld, denn ein solcher Preis war natürlich zum Objekt der Begierde schlechthin geworden. Und somit war auch der Name TUI in aller Munde. Was konnte man sich als Reisebüro mehr wünschen?
Doch blenden wir zurück zu Edith. Edith ist eine zierliche, kleine Frau von 60 Jahren. Ihr kurzgeschnittenes, gerades Haar ist mittlerweile grau geworden. Färben möchte sie es nicht. „Viel zu teuer und zu aufwändig“, sagte sie jedem, wenn sie darauf angesprochen wurde, „und überhaupt bringt das auch kein Glück bei den Männern“, führte sie dann jeweils in bestimmtem Ton weiter aus und griff sich dabei immer kurz in die Haare. Es hätten bestimmt auch andere Gründe sein können, warum sie alleine war, seit ihre Verlobung mit Rudi vor vielen Jahren in die Brüche ging. Doch das ist eine ganz andere Geschichte und die sollte Edith selber erzählen.
Auch in diesem Jahr sammelte sie das Geld für das Tombola Los in Ihrer rosa Glückssocke, die sie damals trug, als sie die mündlichen Prüfungen für die Haushaltslehrerinnenschule erfolgreich absolvierte. Dorthin gehörte das mühsam von ihrem kargen Lohn abgesparte Kleingeld, welches dann für den Kauf des Tombola Los reichen musste. Die Lose waren teuer. Aber die Preise waren es auch und somit die vielen kleinen Entbehrungen wert, die Edith dafür aufbrachte. Übrigens gibt es nur noch eine rosa Socke. Die andere wurde von einem gefrässigen Tumbler irgendwie verschluckt, was Edith damals als sehr schlechtes Zeichen auffasste und kurzerhand die gesamte Waschküche mit dem entsprechenden Räucherwerk bis in alle Ecken ausräucherte. Dieses Wissen hatte sie sich an einem Wochenendkurs bei einem echten Schamanen angeeignet. Das musste sein. Die aufgehängte Wäsche im Trocknungsraum neben der Waschküche hätte so fürchterlich gerochen, teilte ihr die Nachbarin am nächsten Tag ärgerlich mit. Keine Ahnung warum und sie hätte gleich nochmals alles waschen müssen. Edith kommentierte dies nicht, zeigte sich aber ebenso ratlos, wie die aufgebrachte Frau von nebenan. Die einzelne Socke wurde aber durch diesen rätselhaften Verlust nur noch wertvoller für Edith und die ihr innewohnenden Glückskräfte galt es nutzbringend einzusetzen. Auch dieses Jahr konnte sie das nötige Geld zusammensparen und das flauschige Sparkonto platzte beinahe, so viele Münzen steckten drin. Edith war hoch erfreut, dass das Glück weiter andauerte. Am letzten Samstag auf dem Weg zum Losverkauf in der Kirche, meisterte sie den Weg mühelos. Sie tänzelte beinahe über das grossflächige Kopfsteinpflaster des Kirchplatzes, immer darauf bedacht, nie auf eine Fuge zu treten. Schliesslich hätte man sonst gleich direkt in die Hölle fallen können oder wenn dies nicht passierte, dann würde der Teufel sicher einem einen Streich spielen. Das wollte Edith bei dieser wichtigen Erledigung auf keinen Fall riskieren. Dass kurz vor dem Eingangsportal der Kirche eine schwarze Katze von links ihren Weg kreuzte, auf der Flucht vor einer aufgebracht flatternden Krähe, der sie gerade ein kleines Stück Käse vom nahegelegenen Wochenmarkt wegstibitzt hatte, bemerkte Edith leider erst zu spät. Sie war gerade konzentriert daran die quer verlegte letzte Etappe vor dem Eingangsportal zu der Kirche Stein für Stein dribbelnd zu überqueren. Dies war ein besonders anspruchsvolles Stück Weg, da hier die Steine viel kleiner waren und nur die Spitze des Schuhs darauf Platz fand. Edith war verwirrt. Dass ihr das passieren konnte. Gleich zwei Unglücksboten: Die schwarze Katze und die Krähe. Zur Sicherheit spuckte sie drei Mal auf den Boden, was ihr einige sehr irritierte Blicke einbrachte. Das konnte zumindest das Missgeschick mit der Krähe wieder ausgleichen. Doch die schwarze Katze… „Eine Bekreuzigung mit Weihwasser und eine kleine Spende für den Heiligen Eustachius. Der hilft in schwierigen Lebenslagen“, ging es Edith durch den Kopf. Sie war mit sich zufrieden, dass ihr dies in den Sinn gekommen war. Leider würde sie diese Spende für den Opferstock das geliebte Schnitzel zum Mittagessen am morgigen Sonntag kosten. Alles liegt schliesslich nicht drin. Aber was soll’s. Es ist das Ziel das zählt. Leider musste Edith dann nochmals ein Stück über den Kirchenplatz weitertänzeln, um endlich den kleinen Seiteneingang der Kirche zu erreichen. Sie hatte vergessen, dass die aufwändigen Renovationsarbeiten am Hauptportal noch in vollem Gange waren. Überall standen Leitern im Weg und das Letzte, dass sich Edith leisten konnte, wäre ein versehentliches Durchschreiten einer gespreizten Leiter. Nein, das durfte sie nicht riskieren. Und nebenbei konnte sie auch gleich noch das blankpolierte Knie der Christusstatue in der Nische berühren. Das würde nicht schaden, da war sich Edith sicher.
Nun stand sie vor dem Verkaufsstand im Halbdunkel der Kirche. Ein improvisierter Tisch aus zwei Holzböcken mit einem Brett darauf, bedeckt mit einem burgunderroten Samt Tuch. Das war das gute sonntags Tischtuch ihrer Freundin Ruth, welches sie jeweils zur Verfügung stellte für diesen Anlass. Dafür hatte sich Ruth das Privileg gesichert, das erste Los der Tombola zu kaufen. Das würde ihr Glück bringen, davon war Ruth felsenfest überzeugt. Edith war ein klein wenig neidisch auf diese Tradition, doch sie wusste auch, dass die Letzten schliesslich die Ersten sein würden. Das stand schon so in der Bibel. Das musste also stimmen. Deshalb verkniff es sich Edith bereits am ersten Tag des dreitägigen Losverkaufs dort zu erscheinen. Es musste immer der letzte Tag sein. Jeweils am späten Nachmittag. Mit zitternder Hand fischte sich Edith ihr Tombola Los aus dem grossen silbernen Gefäss. Das war übrigens der Champagnerkübel von Bruno aus dem Chor. Schon leicht beschlagen, aber immer noch sehr festlich anzuschauen. Nun kam der wichtige Teil der Auswahl. Hier wusste Edith ganz genau was zu tun war. Ihr Finger ging zielgenau auf das oberste Los am linken Rand und sie begann leise vor sich hinzumurmeln:
Lirum, larum, Löffelstiel,
wer das nicht kann,
der kann nicht viel,
lirum, larum, leck,
und du bist weg.
Diesen Spruch hatte sie während all der Jahre als Hauswirtschaftslehrerin benutzt, wenn sie die Glückliche auswählen sollte, die dann bei der Diplomverleihung die Dokumente auf der Bühne überreichen durfte. Der Klasse erklärte sie jeweils, dies sei ein kompliziertes Auswahlverfahren und eine Kombination von Noten, Verhalten und Absprache mit dem Lehrerverein. Man musste schliesslich nicht alles preisgeben. Aber somit war für Edith klar, dass sie diesen Reim auch für sich selber einsetzen sollte. Bewährt wie er war. Nun war das Los gekauft und sie trug es mit stiller Freude nach Hause. Natürlich wiederum darauf bedacht, den Rückweg korrekt und fugenlos zu bewältigen. Leider hatte der Wirt im Restaurant ‚Zur frohen Postkutsche‘ neben dem Kirchplatz vergessen, das über der Eingangstür aufgehängte Hufeisen wieder korrekt zu befestigen. Edith nahm es ein wenig konsterniert zur Kenntnis. Der Nagel auf der linken Seite war abgebrochen und das Eisen hing schief. Ob dies wohl schon reichte, dass ein Teil des Glücks herausfiel? Sie verdrängte diesen Gedanken. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, dachte sie und schliesslich war dies ja nicht ihr Hufeisen.
Nun ist also Sonntag. Der Tag der Entscheidung. Edith wollte diese Kreuzfahrt unbedingt gewinnen. Ihr ganzes Leben schon wollte sie in die Karibik. Leider ist es nie dazu gekommen. Ihr schmaler Lohn liess dies nicht zu und der kleine Luxus ein Tombola Los zu kaufen, war ihr immer wichtiger gewesen. Das Glück lacht schliesslich nur dem Mutigen. Und heute Abend gibt es diese Kreuzfahrt zu gewinnen. Edith hat sich zurecht gemacht. Ihr schönstes Kleid (in mausgrau gehalten) mit einer frisch gebügelten Bluse (blassgrün und gestärkt) und dazu ein neckisches Hütchen auf der frisch gewaschenen und mit ordentlich Haarspray gefestigten Frisur. So adrett herausgeputzt sitzt sie nun bereits seit einer Stunde leicht nervös auf der Kante ihres Stuhls im Esszimmer. Sie will schliesslich keine Falten in den guten Rock drücken. Nun ist der Moment da. Immer bevor sie sich auf den Weg zur Kirche macht, wo die Tombola traditionsgemäss am Sonntagabend stattfindet, öffnet sie ihr Los. Sie greift mit spitzen Fingern in ihre rosa Glückssocke. Dort ist das Los aufbewahrt. Das kleine Papierobjekt liegt nun in ihrer linken Hand. Edith muss leise gähnen. Sie hatte die halbe Nacht im offenen Schlafzimmerfenster verbracht und angestrengt nach einer Sternschnuppe Ausschau gehalten. Leider kam keine. Aber deshalb war sie nun ein wenig müde. Noch einmal kurz „Toi Toi Toi“ geflüstert und dann ist es soweit. Mit zitternden Fingern reisst sie das Tombola Los vorsichtig an beiden Enden auf. Das Reissen des Papiers dröhnt in ihren Ohren. Dann faltet sie das Papier langsam auseinander. Die Los Nummer kommt zum Vorschien. Edith sitzt wie vom Donner gerührt da und ein leises Stöhnen entfährt ihren Lippen. Die 13. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Die Zahl des Unglücks. Freitag der 13. war der Tag an dem ihr Rudi damals zur Türe rausging und nie mehr zurückkehrte. An ihrem 13. Jahrestag. Seither war alles und jedes, was mit der Zahl 13 zu tun hatte für Edith unaushaltbar. Diese Zahl symbolisierte alles, was schlecht ist auf dieser Welt und in ihrem Leben. Nie mehr wollte sie etwas mit einer 13 zu tun haben. Das hatte sich Edith geschworen. Und schliesslich war sie eine Frau mit Prinzipien. Bleich, aber gefasst, stellt Edith ihre beigefarbene Handtasche auf den Boden, geht in ihr Schlafzimmer und zieht sich aus. Mit geschickten Händen, die jahrelange Übung ahnen lassen, streift sie ihre besten Kleider ab und hängt sie wieder fein säuberlich in den geordneten Kleiderschrank. Ihr Gesicht ist wie versteinert, aber sie behält die Fassung.
Als sie dann später am Abend zu Bett geht, um noch ein wenig zu lesen, beginnt gerade die Ziehung der Tombola Lose in der hell erleuchteten Kirche. Die glücklichen Gewinner holen sich ihre Preise ab. Einer nach dem anderen. Hier ein Früchtekorb, da ein Set glänzender Kerzenständer. Doch alle warten gespannt auf die Ziehung des Hauptpreises.
Edith löscht ihre Nachttischlampe, dreht sich um und schon bald darauf zeigen die ruhigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen ist.
In diesem Augenblick greift die Glücksfee, wie jedes Jahr die Frau des Bürgermeisters, zum zweiten Mal in den schimmernden Champagnerkübel, wo die restlichen Lose liegen. Leider hat sich der Besitzer des Haupttreffers auch nach dreimaligem Aufruf nicht gemeldet und die Regeln besagen, dass dann ein weiteres Los gezogen werden muss. Ruth kann es kaum fassen, als ihre Nummer ausgerufen wird und sie sich mit leicht unsicheren Schritten nach vorne begibt um den TUI Gutschein für die Karibik Kreuzfahrt in Empfang zu nehmen. Nur aus den Augenwinkeln nimmt sie noch wahr, wie die Frau Bürgermeister das Los mit der Nummer 13 zerknüllt und achtlos in den Papierkorb wirft.