Heute war es soweit: Die Maturafeier am Gymnasium. Und zugleich war es auch der allerletzte Schultag für Erika Bolzig, die hier seit vielen Jahren Latein und Geschichte unterrichtet hatte. Nun würde sie in Rente gehen. Doch sie hatte es wieder einmal eilig. Im Sturmschritt überquerte sie den grossen Platz vor dem Schulhaus, den Blick fest auf den Boden geheftet und ihre Aktentasche wie ein Gewehr unter den Arm geklemmt. So sah man sie seit einigen Wochen jeweils am Morgen und am Nachmittag, wobei es einem etwaigen Beobachter aufgefallen wäre, dass sie zunehmend hektischer wurde. Im Lehrerzimmer angekommen, warf sie grusslos ihre Tasche auf den grossen Tisch und goss sich eine Tasse Tee ein, den sie dann in kleinen Schlucken trank. Dabei eilte ihr Blick über den Rand der Tasse scheinbar planlos im Zimmer umher, ohne dabei wirklich etwas zu fixieren. Als der Gong erklang stand sie brüsk auf, packte fahrig ihre Sachen und verliess den Raum. Ihr Gesicht hatte einen hoch konzentrierten Ausdruck angenommen.
Was war passiert? Eine Rückblende.
Erika Bolzig war eine alleinstehende, zierliche ältere Frau mit viel Durchsetzungsvermögen und einem ungebrochenen Interesse an jungen Menschen. Ihre Begeisterungsfähigkeit war ansteckend. Sie hatte lebendige Augen und wenn sie unterrichtete, war ihr ganzer Körper in Bewegung. Einfach nur ruhig dazustehen oder sogar zu sitzen, war nicht ihre Art. Mit weit ausschweifenden Bewegungen, lebendigen Gesten und einer lebhaften Mimik unterstrich sie ihre Ausführungen. Sie liebte es, ihren Schülern die Themen und den Schulstoff möglichst anschaulich und bildhaft zu vermitteln. Das war schon immer so. Gerade jetzt, da sie ein letztes Mal einen Klassenjahrgang unterrichtete, wollte sie nochmals alles geben. Jede ihrer Lektionen bereitete sie liebevoll vor und verwendete dabei einen ganz besonderen Schatz: Die Latein- und Geschichtsbücher ihrer Familie. Sie stammte aus einer alten Lehrerfamilie und diese Bücher, die zum Teil sehr alt und kostbar waren, wurden in einer schön gearbeiteten Truhe von Generation zu Generation weitergegeben. Sie waren etwas ganz Besonderes und auch wenn sie durch sich wandelnde Zeiten wanderten, verloren sie nie ihren Zauber. Wenn man durch die Seiten blätterte fielen einem die kunstvollen Bilder auf, die die alten Philosophen, Herrscher und Entdecker zeigten, welche die Geschichte der Menschheit geprägt haben. Auch historische Karten und Atlanten waren dabei. Frau Bolzig liebte diese Bücher innig und verwendete sie in ihrem Unterricht. „Wissen zu vermitteln hat immer auch etwas mit Schönheit zu tun. Wissen unterstreicht die menschliche Fähigkeit, die Welt zu verstehen und zu gestalten. Das ist es, was ich meinen Schüler vermitteln möchte und dazu brauche ich diese wunderbaren Bücher“, pflegte sie zu antworten, wenn man sie auf ihren Schatz ansprach. Dabei streichelte sie beinahe zärtlich über den Einband des einen oder anderen Buches, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Ein leicht sentimentaler Zug lag dann jeweils auf ihrem Gesicht, denn sie war die letzte ihrer Familie. Es gab niemanden mehr, der diese Tradition hätte weiterführen können. Das machte ihr ein wenig Kummer.
In ihrem Klassenzug gab es eine Schülerin, Lena, die Frau Bolzig besonders am Herzen lag. Lena war ein aufgewecktes, 14-jähriges Mädchen mit vielen Interessen und einer gewinnenden Art. Ihr fiel der Umgang mit dem Schulstoff leicht, was sich auch in ihren Noten niederschlug. Sie hatte strahlend blaue Augen und trug ihr blondes Haar stets nach hinten gebunden, wobei sich regelmässig eine widerspenstige Strähne löste und ihr ins Gesicht fiel, so dass Lena sie mit der Hand wieder hinter ihr Ohr schob. Ihre Gabe zuhören zu können und ihr natürliches Geschick im Umgang mit schwierigen Situationen, machte sie zu einer Schülerin, zu der man gerne hinging. Als es damals um die Rolle des Klassensprechers ging, fiel die Wahl fast einstimmig auf Lena, die sich sehr darüber freute und die Aufgabe mit Ernsthaftigkeit und Respekt anging. Somit hatten Frau Bolzig und Lena regelmässig Kontakt auch ausserhalb des normalen Unterrichts und die Lehrerin war immer wieder beeindruckt von der Art und Weise wie Lena diverse Themen vorbrachte und sich für Lösungen einsetzte. Es war eine spannende und engagierte Klasse. „Ein schöner Abschluss meiner Lehrertätigkeit“, dachte sie bei sich.
In ihrer gewohnten Art und Weise liess Frau Bolzig in ihrem Lateinunterricht wichtige Persönlichkeiten auftreten, liess sie vor den Augen der Schüler lebendig auferstehen und gab ihnen eine Bühne mit den Themen, die sie zu ihrer damaligen Zeit vertraten. Als sie sich im Lateinunterricht mit Marcus Tullius Cicero, dem berühmten römischen Philosophen, Redner und Staatsmann auseinandersetzten, versammelte sie ihre ganze Klasse in der grossen Bibliothek des örtlichen Klosters, einem beeindruckenden Saal. Sie zeigte ihnen ein Bild von Cicero aus einem ihrer alten Bücher und sprach nur einen Satz: „Non est vivere, sed valere vita est.“ Was so viel heisst wie “Ein Raum ohne Bücher ist wie ein Körper ohne Seele.” Das war genug, um zu verstehen, was Frau Bolzig damit zeigen wollte. Schon war die ganze Klasse in eine andere Welt und Zeit versetzt. Eine Zeit ohne Handy und Social Media, in der eine Rede oder eine neue Idee die Welt verändern konnte. Es entspann sich eine angeregte Diskussion und die Schulstunde verflog in Windeseile.
Doch seit einiger Zeit war Lena wie verändert. Sie zog sich zurück und war ruhiger geworden. Ihre Leistungen waren nach wie vor tadellos, aber sie war nicht mehr wie zuvor. Auch nicht in den Treffen als Klassensprecherin. Immer lag etwas Abwesendes in ihren Augen, so als ob sie nicht ganz bei der Sache wäre. Zuerst dachte Frau Bolzig, dass dies eine ganz normale Phase im Leben eines Teenagers sei. Doch es zog sich in die Länge und Lena wirkte zunehmend blass und müde.
Nachdem Frau Bolzig im Rahmen ihres Geschichtsunterrichts, die Entdeckungen von Christoph Kolumbus durchgenommen hatte, folgte nun das Kapitel, welches von Ferdinand Magellan handelte. Er hatte im 16. Jahrhundert die Vision einer westlichen Schiffsroute, mit dem Ziel die Gewürzinseln der Molukken anzusteuern und damit das Monopol der Portugiesen zu brechen. In allen Farben wollte Frau Bolzig in den Lektionen der kommenden Tage die beschwerliche Reise und die Beharrlichkeit und die Durchsetzungsfähigkeit dieses legendären Kapitäns schildern, dessen Entdeckungen bis in die heutigen Tage nachhallen. Sie hatte sich dazu auch wieder einige besonders schöne Bilder und Karten aus ihren Büchern zurechtgelegt, die sie im Unterricht verwenden wollte. Doch schon bei der ersten Erwähnung des Namens sah Lena sie mit erschrockenen Augen an und war ab diesem Moment sehr nervös, als sich die Klasse vertieft mit dem Thema auseinandersetzte.
Bald danach war wieder ein Treffen mit Lena in ihrer Rolle als Klassensprecherin geplant. Nachdem Frau Bolzig und Lena die anstehenden Punkte besprochen hatten, wollte Lena aufstehen und gehen. Frau Bolzig legte ihre Hand auf Lenas Arm. „Bleib bitte noch einen Moment.“ Lena setzte sich wieder. „Seit einiger Zeit beobachte ich, dass dich etwas plagt. Du bist nicht dich selbst. Ich möchte dir gerne helfen, wenn wir darüber reden können.“ Lena schaute Frau Bolzig ernst in die Augen. Dann brach es plötzlich aus ihr heraus.
„Ich halte es nicht mehr aus“, sagte Lena, „alle sind bei mir zuhause.“ Frau Bolzig stutzte. „Wer ist bei dir zuhause?“ „Alle aus Ihrem Lateinunterricht“, und dabei schauten Lenas Augen verzweifelt, „und jeder hat das Gefühl der Grösste zu sein“. Lena sass nun kerzengerade auf ihrem Stuhl und fuhr fort zu erzählen. „Alles begann mit Cicero. Ich kam nach Hause und er stand in seiner Toga im Wohnzimmer vor der grossen Bücherwand. Erinnern Sie sich an seinen Spruch mit dem Raum ohne Bücher?“ Frau Bolzig nickte, verstand aber kein Wort von dem, was Lena ihr sagen wollte. „Er referierte glühend über Philosophie, Politik und Rechtsprechung und schritt dabei im Wohnzimmer auf und ab. Mein Vater sass währenddessen in seinem grossen Lesestuhl und war in die Lektüre seiner Zeitung vertieft. Er hörte und sah offensichtlich nichts“. Lena bekam einen ratlosen Gesichtsausdruck. „Erst als ihm auffiel, dass alle Bücher umsortiert waren, stutzte er. Er liebte das Durcheinander in seiner Bücherwand, dessen geheime Ordnung nur ihm bekannt ist. Er braucht alle diese Werke für seine Arbeit als Journalist. Nun waren die Bücher fein säuberlich nach Themen einsortiert. Natürlich machte er mich dafür verantwortlich. Wer denn sonst.“ Nun hatte Lena einen trotzigen Gesichtsausdruck. Frau Bolzig sah sie verdutzt an. „Und das war nur der Anfang. Danach gesellten sich Seneca, Julius Cäsar, Plinius, Vergil und Ovid hinzu und alle debattierten und stritten sie über ihre jeweilige Sicht auf die Welt.“
„Sie alle sind bei dir zuhause? Ist es das was du mir sagen möchtest?“ Lena nickte und schaute vor sich auf den Tisch. „Julius Cäsar hat sich das Büro von Papa geschnappt, Plinius die Küche und Vergil und Ovid teilen sich das Schlafzimmer meiner Eltern.“ Lena blickte wieder hoch. „Und wissen Sie was, Frau Bolzig? Das passiert nun auch mit den Figuren aus dem Geschichtsunterricht. Als ich vor einer Woche nach Hause kam, sass Ferdinand Magellan in der Badewanne, formte mit dem Schaum die Küstenlinie von Südamerika nach und murmelte etwas von einer Passage, die er finden wolle. Währenddem sass Christoph Kolumbus auf dem Wäschekorb und behauptete immer wieder, dass er den Seeweg nach Indien gefunden hätte. Darüber gerieten sich die beiden dermassen in die Haare, dass am Schluss das gesamte Badezimmer unter Wasser stand. Meine Mutter fiel beinahe in Ohnmacht, als sie das sah und sie glaubte mir nicht, dass ich damit nichts zu tun hätte. Kolumbus und Magellan standen währenddessen mit einer schuldbewussten Mine in der Duschkabine.“
In den kommenden Minuten erzählte eine völlig aufgewühlte Lena Frau Bolzig, dass sich mittlerweile im ganzen Haus Figuren aus ihrem Unterricht eingenistet haben. Im unteren Stock halten sich mit Vorliebe bekannte Personen aus der Politik auf, wie John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, die im Gästezimmer lauthals über politische Systeme diskutierten. Oder im Sportzimmer, wo sich Mahatma Gandhi, Kaiser Wilhelm I und Napoleon wortgewaltig über den Stellenwert der Monarchie zankten. Da waren aber auch Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die beiden Philosophen, die im Zimmer von Lena heftig über ihre gegenteiligen Ansichten zu der menschlichen Freiheit diskutierten. Nicht zu vergessen Nikola Tesla der sich mit Thomas Edison in der grossen Garage über die Vorzüge und die Verwendung von Gleichstrom oder Wechselstrom stritt und die dabei das eine oder andere Elektrowerkzeug durchbrennen liessen. Und das waren nur einige der Figuren, die bei Lena hausten. Alle Zimmer, vom Keller bis zum Dachgeschoss, waren besetzt. Es wurde debattiert und gestritten, aber auch zugehört und neue Ideen entwickelt. Das Durcheinander, welches dabei in den verschiedenen Räumen entstand, versuchte Lena immer wieder in Ordnung zu bringen. Was ihr aber nicht immer gelang und ihr einige Male Hausarrest einbrachte.
„Gestern lag ein Brief auf meinem Kopfkissen. Es war ein gemeinsam verfasstes Schreiben. Sie alle wollen, dass Sie zu uns nach Hause kommen und dass wir mit ihnen reden“, schloss Lena ihre Ausführungen und sie schaute dabei Frau Bolzig fragend an. „Werden Sie kommen?“
Am nächsten Freitagabend stand Frau Bolzig vor der Türe von Lenas Haus. Ihre Eltern waren gerade auf einer kurzen Städtereise. Eine gute Gelegenheit. Nachdem sie geläutet hatte, ging die Türe auf und eine erleichtert wirkende Lena stand vor ihr.
„Kommen Sie, Frau Bolzig, rasch.“ Lena führte sie durch einen halbdunklen Gang der schliesslich in der Waschküche mündete. Dort waren sie versammelt. Alle Persönlichkeiten, die Frau Bolzig nur zu gut kannte. Da standen die Philosophen versammelt, auf der gegenüberliegenden Seite die grossen Staatsmänner und auch die Entdecker und Abenteurer hatten sich neben dem Wäschetrockner zusammengefunden. Die Stimmung war ruhig und konzentriert. Ihre Blicke waren auf die Eintretenden gerichtet. Dann dirigierten sie die beiden mit einer feierlichen Geste zu zwei umgedrehten Wäschekörben in der Mitte des Raums. Lena und Frau Bolzig setzten sich vorsichtig darauf nieder. Nach einer Weile trat endlich eine der Gestalten nach vorne. Es war Martin Luther King Jr., den sie zu ihrem Redner erwählt hatten. Er kam geradewegs zum Thema.
„We have a dream“, fing er an und die Umstehenden nickten zustimmend mit ihren Köpfen, „wir wissen, dass dies Ihr letzter Klassenzug ist. Über all die Zeit wurden wir in unserer Truhe in Ihrer Familie weitergereicht. Von Generation zu Generation und allesamt waren es grossartige Lehrer, die uns und unsere Geschichten, unsere Taten und unser Wissen weitervermittelten. Wie soll das nun weitergehen? Das darf nicht einfach aufhören.“ Martin Luther King Jr. machte eine rhetorische Pause und schaute dabei Erika Bolzig fest in die Augen. Aus den Reihen der Umstehenden kamen verhaltene Bravo-Rufe. Dann fuhr er fort: „Deshalb möchten wir, dass unsere Truhe an Lena übergeht“, er schaute bei diesen Worten Lena direkt an, die den Blick verblüfft erwiderte. „Du sollst in Zukunft Latein und Geschichte unterrichten und wir werden dir dabei helfen.“ Ein tosender Applaus brach los und alle sprachen wild gestikulierend durcheinander. Martin Luther King Jr. brachte die Menge mit einer Geste zum Schweigen und es begann eine grosse Debatte.
Nachdem sich Lena und Frau Bolzig wieder gefasst hatten, besprachen sie viele Fragen und es wurde lange diskutiert, bis sich schliesslich alle geeinigt hatten. Lena würde Lehrerin werden und Frau Bolzig würde sie bis dahin begleiten und ihr zur Seite stehen. Nach dem Abschluss ihres Studiums würde Frau Bolzig die Truhe mit all den wunderbaren Büchern an Lena weitergeben und sie würde sie in ihrem Unterricht verwenden. So wie dies Generationen von Lehrern vor ihr auch gemacht hatten. Im Gegenzug verpflichteten sich die anwesenden Freigeister, dass sie am letzten Schultag wieder zurück in ihre Bücher in der Truhe schlüpfen werden. Bis dahin würden sie auch versuchen, möglichst wenig Unordnung zu machen. Über diesen Punkt wurde lange gefeilscht, aber Lena bestand darauf. In einem feierlichen Schwur, der von George Washington abgenommen wurde, besiegelten alle Anwesenden dieses Abkommen und kaum waren ihre Worte in der Waschküche verklungen, waren die Figuren verschwunden. Sie waren wieder zurück in ihren Zimmern in Lenas Haus. Nur noch Lena und Frau Bolzig standen ganz alleine in der Waschküche. Es war ganz ruhig geworden. Nur von weit her hörte man die Glocke der Dorfkirche Mitternacht schlagen.
In den kommenden Wochen und Monaten verlief der Unterricht am Gymnasium wieder wie vorher. Doch wenn Frau Bolzig die Lektionen vorbereitete und dabei wieder auf ihre Bücher zurückgriff, machte sie dies mit noch mehr Sorgfalt als zuvor. Einmal hatte sie das Gefühl, dass ihr Immanuel Kant kurz zuzwinkerte und ein anderes Mal hätte sie darauf wetten können, dass Isaac Newton ihr zugewunken hatte. Aber das hätte natürlich auch reine Einbildung sein können. Auch Lena war zunehmend wieder sich selbst und nahm sehr aktiv am Unterricht teil. Vielleicht sogar noch ein bisschen engagierter als zuvor.
Frau Bolzig, trat ins Schulzimmer, wo alle aufgeregt durcheinander schwatzten. Schliesslich war heute der letzte Schultag. Ihr Blick suchte Lena, die sich gerade lebhaft mit ihrer Pultnachbarin unterhielt, dann aber doch kurz zu ihr herüberschaute. Heute waren auch viele Eltern mit dabei. Auch Lenas Eltern waren hier. Dann begann Frau Bolzig ihre allerletzte Lektion.
Am Abend erhielt Frau Bolzig eine WhatsApp Nachricht auf ihrem Handy: „Sie haben Wort gehalten. Sie sind alle weg. Jetzt sind wir dran. Ich freue mich drauf. Gruss, Lena“.
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		