Als sich die innere Schleusentür der ISS hinter ihr geschlossen hatte und die Pumpen begannen die Luft abzusaugen wurde es Lena ganz bewusst: Sie würde die erste Frau im Weltraum sein, die einen Ausseneinsatz leistet.
Nach ihrem Physikstudium wurde sie bei der ESA für die Ausbildung zur Astronautin ausgewählt und sie absolvierte fast vier Jahre harten Trainings, wo sie auf diese Mission vorbereitet wurde. Eine herausfordernde Zeit. Aber nun sass sie tatsächlich in ihrem Raumanzug in der Druckkammer und atmete reinen Sauerstoff, um ihren Körper an den niedrigen Luftdruck im Raumanzug zu gewöhnen. Ihr erster EVA Einsatz stand bevor.
Mit belegter Stimme gab Lena das Kommando zum Ausstieg: «Egress». Marco, ihr Kollege auf dieser Mission, berührte den Touchscreen mit seinen dicken Raumanzugshandschuhen. Die Aussenschleuse öffnete sich langsam und gab den Blick auf die Erde frei, die sich rund 400 km unter ihnen in blauen und weissen Farbtönen präsentierte. Dieser Anblick war überwältigend. Marco lächelte hinter dem Visier seines Helms. Für ihn war es bereits sein fünfter Ausseneinsatz und das gab Lena ein beruhigendes Gefühl. Routiniert befestigte Marco seine Sicherungsleine an der Aussenseite der ISS und stieg aus. Lena tat es ihm gleich. Vorsichtig hangelte sie sich an den Handläufen an der Aussenseite entlang. Sie merkte nichts von der enormen Geschwindigkeit, mit der sich die Raumstation auf ihrer Umlaufbahn bewegte. Marco hatte sich in der Zwischenzeit an einem Roboterarm befestigt und liess sich von ihm an ihren Einsatzort an den Sonnenkollektoren der ISS bringen. Er winkte ihr noch zu als sich plötzlich Entsetzen auf seinem Gesicht ausbreitete. Er fasste sich an den rechten Oberschenkel, wo sich ein kleiner Riss zeigte. Offensichtlich war Marcos Raumanzug von einem kleinen Teilchen Weltraumschrott getroffen worden. Der zerstörerische Effekt war katastrophal. Der Sauerstoff entwich innert Sekunden und Marcos Körper wurde dem Vakuum des Weltraums ausgesetzt. Lena musste handeln, liess die Halterung los und aktivierte ihr SAFER Rucksacksystem, dessen Düsen sich über eine Art Joy Stick Steuerung auf der Vorderseite ihres Raumanzugs bedienen liessen. Nur noch an der Sicherungsleine mit der ISS verbunden schwebte Lena auf Marco zu, der bewegungslos am Roboterarm festgemacht war und sich immer noch in Richtung der Sonnensegel bewegte. In dem Augenblick, als sie bei ihm ankam, sah sie gerade noch wie Marcos Augen platzten. Durch das Vakuum hatten das Blut und die Flüssigkeiten in Marcos Körper zu kochen und sich auszudehnen begonnen. Lena spürte wie sie in Panik geriet und sich mit einem unkontrollierten, viel zu heftigen Stoss aus den Stickstoffdüsen ihres SAFER Systems von Marco wegkatapultierte. Ein heftiger Ruck signalisierte ihr, dass sie die maximale Länge ihres Sicherungsseils erreicht hatte. Lena musste sich wieder fassen. Dies war nun überlebenswichtig. Sie dachte an ihr Training und fing an ruhiger zu atmen und sich zu konzentrieren. «Abort» sprach sie in ihr Comm Cap, in das auch ein Mikrofon integriert war. Sie musste unverzüglich zu der ISS zurückkehren. Sie konnte Marco nicht mehr helfen. Vorsichtig brachte sie sich mit Hilfe der Steuerdüsen in die korrekte Position, so dass sie die Einstiegsschleuse der Raumstation wieder sehen konnte. Ganz langsam schwebte sie darauf zu. Als sie ungefähr noch 10 Meter von der Luke entfernt war bemerkte sie, dass etwas Glänzendes an ihr vorbeiraste. Irritiert schaute sie in die entgegengesetzte Richtung und sah, dass eine schimmernde Wolke kleinster Partikel gerade das Raumschiff erreicht und bereits eines der Sonnensegel zerfetzt hatte. Lena wollte noch mit einem gezielten Manöver unter der Wolke durchtauchen als ein Teilchen ihre Sicherungsleine durchtrennte. Ungläubig schaute Lena auf das gekappte Ende der Leine, welches sie mit der ISS verbunden hatte. Sie entfernte sich langsam von der Raumstation. Mittlerweile war es dunkel geworden. Der Tag-Nachtzyklus von 90 Minuten führte dazu, dass ein Ausseneinsatz immer mehrere solcher Phasen umfasste. Lena hatte sich darauf gefreut, den Sonnenauf- und Untergang im Orbit ganz bewusst zu geniessen. Nun war sie völlig überrumpelt worden und wusste zuerst gar nicht, was passiert war. Als sie sich wieder fasste, schaltete sie die hellen LED-Scheinwerfer an ihrem Helm ein. Plötzlich realisierte sie, dass sie sich immer noch weiter von der ISS entfernte. Sie musste reagieren. Sofort. Sie wusste, dass ihr Stickstoffvorrat im Tank sehr begrenzt war und sie den Treibstoff brauchte, um die Distanz bis zur Raumstation zu überwinden. Die ruhige Stimme in ihrem Comm Cap erzielte ihre Wirkung. Es war das Mission Control Center in Houston. Lena wurde absolut klar und hochkonzentriert. Mit leichtem Druck auf den Handcontroller brachte sie zuerst ihre Rückwärtsdrift zum Stillstand. Danach richtete sie sich erneut auf die Luke vor sich aus. Sie lag mittlerweile rund 100 Meter von ihr entfernt. Das war das absolute Limit und sie wusste, dass sie sich nun keinen Fehler mehr erlauben konnte um nicht zu riskieren, steuerlos durch das All zu treiben. Natürlich hätte sie noch eine gewisse Menge an Sauerstoff, doch bis ein Kollege von ihr die Vorbereitungen für einen Ausstieg abgeschlossen und die erforderliche Dekompressionsdauer von vier Stunden in der Ausstiegsschleuse absolviert hätte, würde es knapp werden. Sie hatte durch den Stress auch viel zu viel Sauerstoff verbraucht und die aufgehende Sonne zeigte ihr, dass bereits wieder 90 Minuten vergangen waren. Ob der Partikelschauer vorbei war? Egal, sie durfte sich darüber keine Gedanken machen. Lena gab wieder leichten Schub und sie begann sich in Richtung der ruhig vor ihr liegenden ISS zu bewegen. Sie schwitzte und der Schweiss lief ihr in einem kleinen Rinnsal über das Gesicht und auch in die Augen, sodass sie zu brennen begannen. Sie blinzelte ein paar Mal und nahm einen Schluck Wasser aus dem im Helm integrierten Trinkhalm. «Ganz ruhig bleiben» ging es ihr durch den Kopf. Sie schwebte auf die ISS zu und plötzlich konnte Lena an den Fenstern und der Cupola die Köpfe ihrer vier Kollegen erkennen. Alle hatten einen angespannten Ausdruck auf ihren Gesichtern. Einer zeigte ihr einen nach oben gerichteten Daumen. Dies musst Juri sein, der einzige russische Kosmonaut an Bord. Seine Lippen formten die Worte «Schast’ya», was «Viel Glück» bedeutet. Lena hatte in ihrem Studium ein Austauschsemester in Moskau verbracht und deshalb nutzte sie ihre spärliche Freizeit auf der ISS um sich mit Juri auf Russisch zu unterhalten. Unwillkürlich musste sie lächeln. Gleich darauf passierte sie den Roboterarm, auf dessen Plattform immer noch der Raumanzug von Marco aufrechtstehend sich scharf gegen den gleissend hellen Hintergrund der aufgegangenen Sonne abzeichnete. «Auf Wiedersehen, mein Freund» sagte Lena leise mit leichtem Wehmut in der Stimme und hob ihre linke Hand wie zu einem Winken. Ein letzter Gruss für einen Freund, der ihr so viel Halt und Zuversicht gegeben hatte, als sie sich gemeinsam auf ihren ersten Ausseneinsatz vorbereiteten. Nun musste sie allein zurechtkommen. Einige Meter vor der Einstiegsluke konnte sie das glatt durchgeschnittene Ende der Rettungsleine ergreifen und sich damit zusätzlich sichern. Einen Moment kam es ihr vor wie eine Geburt, als sie an dieser Nabelschnur aus Stahl hing. Vor sich die Luke zurück ins Leben und hinter sich die Unendlichkeit des Alls. Als Lena die Luke erreichte löste sie den Öffnungsmechanismus, stieg ein und schloss sie wieder. Dann bediente sie das Ventil und Luft strömte in die Schleuse. Während der folgenden zehn Minuten Dekompressionszeit begann sich Lena ganz bewusst zu entspannen. Sie spürte wie sich eine unendliche Müdigkeit in ihrem ganzen Körper ausbreitete und als sich schliesslich die innere Türe zur ISS öffnete mussten ihr die Kollegen helfen aufzustehen.
Nachdem sie einen medizinischen Check durchlaufen hatte, begab sie sich in ihre Schlafkabine. Sie betrachtete nochmals das Selfie, das Marco und sie gemacht hatten, bevor sie sich in die Ausstiegsschleuse begaben. Lena nahm sein Lächeln mit und fühlte sich ihm nochmals ganz nah bevor sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf versank. Vor der ISS ging gerade wieder die Sonne auf.
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		