Der Wagen kam mit einem letzten Ruck zur Ruhe und es wurde ruhig. Claire mochte sich nicht umschauen. Bereits auf der ganzen langen Fahrt, schaute sie trotzig auf ihre Schuhe und liess die Landschaft ungesehen an sich vorbeiziehen. Zuerst versuchte ihr Vater noch eine Plauderei mit ihr zu führen. Doch ihr beharrliches Schweigen liess ihn diesen Versuch schon bald wieder aufgeben. Stattdessen drehte er das Radio an. Leise Musik erklang aus den Lautsprechern. Fröhliche Musik, die so gar nicht zu der Stimmung von Claire passen wollte. Sie fühlte sich einsam. Alleingelassen. Zu vieles war in den vergangenen Wochen passiert, dass ihr Leben vollständig durcheinanderbrachte. Zuerst war Mama gestorben. Ganz plötzlich und doch nicht überraschend. Claire konnte täglich sehen, wie ihre Kraft abgenommen hatte. Doch sie wollte es nicht wahrhaben und kämpfte dagegen an. Mit der ganzen Energie, die ein 13-jähriges Mädchen aufbringen konnte, kämpfte sie dagegen an. Am Ende musste sie aber einsehen, dass sie nichts an der Tatsache ändern konnte, dass die Krankheit siegte. Sie musste ihre Mutter gehen lassen. Danach kamen plötzlich ganz viele Bekannte in ihr Haus. Allesamt Menschen, die sie bis anhin kaum gesehen hatte. Alle wollten sie mit Claire sprechen, sie trösten, ihr Ratschläge geben und sie in die Arme schliessen. Das war alles zu viel für sie und sie zog sich immer mehr in sich zurück. Als dann auch noch ihr Vater aufkreuzte, verschloss sich Claire ganz und gar gegenüber der Aussenwelt. Ihn hatte sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen und wusste kaum mehr, wie er eigentlich aussah. Er war auch all die Jahre mit ihrer Mutter kein Thema mehr gewesen, so dass Claire eigentlich vergessen hatte, einen Vater zu haben. In dem Augenblick, als sie ihn wieder sah, fühlte es sich wie ein Stich in der Brust an und ihre Gefühle wirbelten durcheinander. Doch sie wollte diesem Wiedersehen keine Gefühle widmen, wollte ganz bei sich bleiben. Es hatte nur Platz für Mama in ihrer kleinen Welt, die sie eifersüchtig vor allen äusseren Einflüssen zu beschützen versuchte. Doch sie wusste auch, dass dieser Mann wieder eine Rolle in ihrem jungen Leben einnehmen wird. Das Gericht hatte ihm das Sorgerecht übertragen. Darüber wollte sie sich im Moment aber noch keine Gedanken machen.
Es war eine triste Beerdigung und es regnete unaufhörlich, als die kleine Menschenansammlung um das offene Grab stand. Unter den aufgespannten Schirmen, Mützen und Kapuzen lugten fremde Gesichter mit unbewegten Augen auf die Szene, die sich ihnen bot. Neben dem Pfarrer, der seine gewohnte Litanei ohne viel Bezug zu dem Menschen, um den es hier eigentlich ging, herunterleierte, stand Claire. Fast schon kein Kind mehr. Eine schmale, hochgewachsene, junge Frau. Ihr blondes, halblanges Haar fiel ihr in nassen Strähnen ins Gesicht. Der Regen fiel leise auf sie nieder und spülte ihre Tränen mit sich weg. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob sie weinte oder nicht. Ihr Gesicht war wie versteinert und ihre klammen Finger hielten eine weisse Rose. Es war die Lieblingsblume ihrer Mutter gewesen. Es gab nur ein leises Klatschen, als sie die Rose auf den regennassen Sargdeckel fallen liess. Claire drehte sich brüsk um und pflügte mit raschen Schritten über den aufgeweichten Rasen. Die kleine Gruppe der Umstehenden teilte sich, um dieser energischen Gestalt Durchlass zu gewähren. Danach schloss sich der Weg wieder und ein leises Murmeln begann. Gleich vom Friedhof aus fuhren ihr Vater und sie zum Flughafen, der ungefähr eine Stunde Fahrzeit weit weg von der kleinen Ortschaft lag, wo Claire ihre Kindheit verbracht hatte. Eine glückliche Kindheit, die nun ein so abruptes Ende nahm. Claire spürte instinktiv, dass in diesem Augenblick ein neues Kapitel in ihrem jungen Leben aufgeschlagen wurde.
Nun waren sie also angekommen. Dieser Ort sollte ab jetzt ihre neue Heimat sein. Sie konnte und sie wollte sich dies nicht vorstellen. Es war später Nachmittag und ihr Vater öffnete von aussen sachte die Wagentür. Claire bewegte sich nicht. «Ich lass Dich in Ruhe. Du entscheidest, wann Du ins Haus kommen möchtest», sagte ihr Vater zu ihr und begann, das Gepäck aus dem Kofferraum zu nehmen. Mehrmals wurde eine Türe geöffnet und wieder geschlossen, bis es schliesslich wieder ganz still wurde. Wie in Trance bewegte Claire nach einer Weile ihren Kopf nach rechts, hob ihn an und schaute zum ersten Mal aus der offenen Wagentür. Vor ihr breitete sich eine weite Landschaft aus. Das sanfte Grün der Wiesen ging nahtlos in das dichte Unterholz der nahen Wälder über. Wie ein Meer mit sanften Wellen zogen sich die bewaldeten Hügel bis hin zum Horizont, wo bereits die Sonne tief am Himmel stand und alles in dem sanften, goldenen Licht eines zu Ende gehenden Herbsttages badete. Die Blätter der Ahornbäume hatten sich bereits mit bunten Herbstfarben festlich herausgeputzt. Ab und zu pflückte ein verspielter Windstoss eines davon ab und liess es auf seinem Weg zum Boden noch ein Weilchen in der Luft tanzen, bevor er es auf den bunten Blätterteppich niedersinken liess, wo es als Farbtupfer darin aufging. Die Luft war noch sonnenwarm, roch würzig und der Wind trieb eine kleine Zahl von weissen Wolken vor sich her, die sich bereitwillig anschieben liess und immer wieder in andere Formen zerfloss. Von weither konnte Claire das leise Plätschern von Wasser hören. Vielleicht ein kleiner Bach? Die Hügel verschatteten sich zunehmend. Langsam stieg sie aus dem Wagen und setzte vorsichtig ihre Füsse auf den Boden, so als hätte sie Angst, dass er sie nicht tragen könnte. Ihr Körper fühlte sich angespannt und gleichzeitig müde an. Das letzte warme Sonnenlicht breitete sich auf ihrem Gesicht und ihren nackten Armen aus. Es fühlte sich gut an und als sie ihre Augen auf die tiefstehende Sonne richtete, spürte sie das Licht in ihren Pupillen. Es hatte etwas Verheissungsvolles und ihr war, als füllte sich dieser dunkle Raum tief in ihrer Brust mit diesem warmen Licht und sie erwachte wie aus einem tiefen, unruhigen Traum. In diesem Augenblick wusste Claire, dass sie ihr altes Leben loslassen musste und dass sie all dem Neuen, das ihr nun bevorstand, eine Chance geben wollte. «Es ist gut, Mama. Ich werde das schaffen…», sprach sie leise vor sich hin, als sie sich umdrehte und langsam auf das Haus zuging, wo in den Fenstern bereits das erste Licht zu sehen war. Ihr neues Leben hatte soeben begonnen und sie war entschlossen, es zu erkunden.