DaFabula

Er musste es wissen

Nun schlenderte ich also, in Gedanken noch ganz in der vergangenen Woche verhangen, den noch nicht stark frequentierten Gehsteig an diesem frühen Samstagmorgen entlang, mal hier grüssend, mal da den Hut hebend, um mich in dem Gasthaus niederzulassen, wo ich gerne einen starken Kaffee bestellte und dazu, wann immer es der Wirtin an gutem Willen und auch an Zeit nicht gemangelt hatte, mit viel Vorfreude auf den anstehenden Genuss, mir ein Stück des frischen Apfelkuchens genehmigen würde, der sich mit seinem lieblichen Duft schon weit vorauseilend ankündigte und mir liebgewordene Erinnerungen aus meiner Kindheit weckte, die mir sogleich ein Gefühl von Zuhause und des Willkommenseins schenkten und meiner Füsse Schritte rascher in Richtung des gewohnten Tisches lenkten, den ich gerne für mich in Beschlag nahm, um mich dort auf das nun anstehende Wochenende in Ruhe und Beschaulichkeit und doch nicht ohne auch die Umgebung unauffällig zu beobachten, was ich als liebgewonnenes Ritual schon vor geraumer Zeit mir angewöhnt hatte. Als ich nun dort sass, die Beine übereinandergeschlagen, den untersten Knopf meiner Weste offenstehend und die Schürzen der Jacke meines Anzugs nach hinten geschwungen, den Hut neben mir auf dem Tisch und die Tasse mit dem noch dampfenden Kaffee vor mir stehend bereits einen ersten Bissen des lieblichen Apfelkuchens genüsslich im Mund hatte, wurde meine bis zu diesem Augenblick noch frei herumvagabundierende Aufmerksamkeit plötzlich durch ein Paar mittleren Alters in den Bann gezogen, wobei ich nicht mit Bestimmtheit hätte sagen können, weshalb dies geschah und warum mich diese beiläufige Situation an einem der gewöhnlichen Blechtische auf dem Gehsteig vor der Eisdiele nebenan, der mit keinem Tischtuch oder sonstigem Schmuck herausgeputzt war, so direkt ansprach und mich fesselte, zumal es ansonsten nicht meine Art gewesen wäre, mich in so unerhörter Weise an die Intimität eines Gesprächs von zwei mir fremden Menschen anzunähern, da es mir nicht zusteht und ich auch nicht dazu aufgefordert worden bin, was ansonsten diese Angelegenheit natürlich in ein ganz anderes Licht gestellt hätte und vielleicht sogar aufgrund des Ansinnens von diesem Mann und der Frau, mich um Rat anzugehen, hätte geschehen können. Da dies aber nicht der Fall war und ganz offensichtlich auch nicht von dem besagtem Paar gewünscht war, musste ich mich auf unziemliche Weise auch weiterhin in die Rolle des unsichtbaren Zuhörers kleiden, die eigentlich nicht meinem Charakter entsprach, wo ich mich aber trotzdem bereits mitten drin wiederfand und die sogleich mein unauffälligstes Gesicht und eine zwanglose Körperhaltung von mir verlangte, um damit meinen wachen Geist und die gespitzten Ohren leidlich zu kaschieren zu versuchen, was mir aber einigermassen gut gelang, da die leise geführte Konversation der beiden adrett gekleideten Personen in keiner Weise abbrach oder ins Stocken kam und mir, nicht einmal aus den Augenwinkeln heraus, kein überraschter oder vielleicht auch durchaus vorwurfsvoller Blick zuteilwurde, was ich mit einiger Genugtuung feststellte, ohne mir dabei allzu viel auf meine dürftigen Schauspielfähigkeiten einzubilden, deren ich bereits während meiner Internatszeit in Hoheneschengau immer wieder von Seiten des an mir verzweifelnden Lehrmeisters für Musik und darstellende Bühnenkunst, Magister Otto von Weissbeck, versichert wurde, wenn ich, nicht ohne Herzklopfen und ein paar kleiner, verräterischer Schweisstropfen auf der Stirn, auf der grossen Bühne im Theatersaal des Internats stand, um dort den von mir geforderten Part einer Aufführung zum Besten zu geben, wobei meine Auffassung vom ‘Besten’ sich bei weitem nicht mit der des Herrn von Weissbeck deckte und er mir jeweils händeringend die Intonation und die dem jeweiligen Stück angepasste Dramatik und Körperhaltung erklärte und vormachte, wobei sich ein ganzes Spinnennetz an feinen Sorgenfalten über sein Gesicht ausbreitete und sein Monolog zumeist mit einem Stossseufzer endete, worin er mich als hoffnungslosen Fall für die darstellende Kunst und der ihr innewohnenden Schauspielerei bezeichnete, was jeweils im Klassenkörper zu einem hämischen Lachen und Spötteln führte, welches Herr von Weissbeck dann aber doch nicht dulden wollte, da die meisten meiner Kommilitonen ebenfalls weder von der Muse geküsst noch vom Stachel des Ehrgeiz angetrieben wurden, um sich gerade in diesem Fach sonderlich hervorzutun. Doch an diesem Tag, am Tische meines bevorzugten Gasthauses in der Innenstadt, schien es mir schauspielerisch zu gelingen und da ich nun bereits ganz und gar unvermittelt in dieses vergnügliche und auch leicht verwerfliche Abenteuer geschlittert war, wollte ich dessen Fortsetzung nicht durch eine voreilige Intervention meinerseits ein frühzeitiges Ende setzen, sondern mich schelmisch, aber ohne boshaften Vorsatz, dem Genuss dieser kleinen Abhöraktion hingeben, wohlwissend, dass dies nicht dem Gebaren und dem sittlichen Empfinden eines Mannes meines Standes entsprach, aber mir vielleicht gerade deswegen ein beinahe kindliches Vergnügen bereitete.

Nun hob der Mann an zu sprechen, mit einem sehr ernsten Gesicht, welches beinahe schon Züge der Verzweiflung trug und er unterstrich dabei seine Worte mit heftigen Gesten seiner schmalen Hände in der Luft, die mich an die eines Pianisten oder sonst einem Mann der schönen Künste erinnerten und die damit den Worten eine zusätzliche Dramatik und Intensität geben sollten. «Nun mag es Dir vielleicht noch nicht lang vorkommen, meine liebe Freundin, aber es sind nun schon sechs lange Monate ins Land gezogen, in denen ich kein Gespür für die schneidende Kälte des Winters hatte und keine Augen und keine wachen Sinne für die Blütenpracht des Frühlings, denn all mein Sinnen und mein Begehren sind auf Dich ausgerichtet und es raubt mir den Schlaf, Dich nicht an meiner Seite zu wissen, sogar noch schlimmer, keine Hoffnung auf Dein baldiges Kommen zu haben, da ich es einfach nicht weiss. Warum nur, meine Liebe, lässt Du mich dermassen grausam im Ungewissen? Warum nur muss ich dieses Leiden in mir tragen, das mir jeden Tag zu Grautönen verwischen lässt und mir die schiere Lebensfreude raubt und es mir schwer macht zu atmen? Liegt es an mir, so bitte ich Dich inständig, es mich wissen zu lassen, damit ich es angehen und ungeschehen machen kann. Doch lass es nicht weiter andauern.» Seine Hände mit den langen Fingern kamen wieder auf der Tischplatte zwischen ihnen zur Ruhe und mit einer ergreifend einfachen Geste fasste die Frau nun sanft seine Hände an und suchte mit ihren Augen den Blick ihres Gegenübers.

Die frühlingshafte Welt, mit ihren verheissungsvollen Düften, dem lauen Wind und den wiedererwachten Geräuschen der Natur, war für diese beiden Menschen von keinerlei Bedeutung und sie befanden sich förmlich in einer anderen Dimension, wo nur die Gegenwart zählte und keine Störung geduldet werden konnte, auch nicht wenn die hübsch gekleideten Menschen in bester Frühlingslaune leichtfüssig an ihnen vorbeiflanierten und selbst dann nicht, wenn ab und an eines der bauschigen Kleider flüchtig ein Bein oder einen Arm des Paares berührte. Sie waren nur füreinander da und als ein Ausdruck für diese beinahe schon metaphysische Haltung stellte ich fest, wie sich dicke Tropfen von geschmolzenem Eis am Rande ihrer Eisbecher bildeten, die dann langsam am Rande des Glases herunterliefen, sich zuweilen auf ihrem Weg nach unten miteinander vermengten, was zu einer Veränderung im Farbton führte, bis sie dann schliesslich träge auf die Tischplatte fielen, wo sich bereits ein kleiner, kühler und vielfarbiger See gebildet hatte.

Als endlich ihre Augen seinen Blick gefunden hatten, konnte dieser beinahe nicht standhalten, flackerte, war unruhig, suchend und dies alles zeigte, wie unsicher er sich fühlte in dieser Situation, wo er sich ganz und gar gezeigt hatte ohne zu wissen, was danach geschehen würde und ob er damit nicht zu weit gegangen war. Ein leicht verrutschtes Lächeln huschte wie ein kurzer Schatten über sein Gesicht. «Warum machst Du Dir solche Sorgen, mein Liebster? Warum bloss? Welchen Grund gebe ich Dir dazu? Du kennst mich und Du kennst uns. Wir beide haben eine Rolle in unserem Leben und es ist nicht einfach, kurzerhand diese Rolle abzustreifen. Dies war immer auch klar zwischen uns und wir respektierten das jeweilige Leben des Anderen. Bitte denk daran und zweifle nicht an mir, denn dies wäre auch ein Zweifel an uns beiden und an unserer gemeinsamen Geschichte.» Sie sprach diese Sätze ganz deutlich und mit Bedacht aus und streichelte dabei sanft seine Handrücken. Doch nun begann er zu reden, ohne auch nur einen Augenblick seine Hände unter den ihren hervorzuziehen, so als wäre dies die Brücke, die Sicherheit, die er brauchte um zu wissen, dass sie ihn verstand und dass sie in diesem Moment ganz und gar bei ihm war, jetzt, wo er sich bereit fühlte über all das zu sprechen, was sich in seinem Innern angestaut hatte. «Ich will Dich nicht verlieren, ich darf Dich nicht verlieren. Nicht nach allem was wir durchgemacht haben. Du bedeutest mir die Welt, mein Leben, mein Dasein und ich fühle mich ohne Dich an meiner Seite, als hätte man mir die Hälfte meiner Seele gestohlen, unfertig, unfähig, mich durchzukämpfen und in dieser Welt, die voller Habgier, Zorn und Elend ist zu bestehen.» Nun brachen sich die Worte und Sätze einen Damm und plötzlich nahm er seine Hände doch unter den ihren hervor und begann wieder heftig zu gestikulieren, um damit seine Rede mit Gebärden zusätzlich zu unterstreichen. Zuerst schaute sie ihn nur erstaunt an, dann umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen, ganz als würde sie ihn zum ersten Mal in dieser Art und Weise erleben, so ganz ausser sich und doch im selben Moment ganz tief bei sich, in seinem Innern, verbunden mit den Dingen, die ihm wichtig sind und aus denen für einmal sein Herz sprach und nicht sein Verstand. Dann hob sie ihre rechte Hand und legte ihren Zeigefinger ganz leicht auf seine Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, was er verdutzt wahrnahm und auch tatsächlich den Effekt hatte, dass sein Reden und sein Gestikulieren fast augenblicklich aufhörten. Die Spannung in seinem Innern war ihm förmlich anzusehen, wie er dort aufrecht auf dem filigran gearbeiteten Stuhl mit völlig durchgestrecktem Rücken verharrte, bereit, ihr zuzuhören, bereit, Klarheit zu bekommen, Klarheit für ein Anliegen, das ihm so wichtig schien und für das er bis anhin so wenig Worte hatte finden können. «Du brauchst Dich mir nicht wortreich zu erklären, mein Liebster», sprach sie ihn an und trug dabei ein fast schon feierliches Gesicht, welches mir verriet, dass es für sie nun sehr wichtig war, dass er die Ernsthaftigkeit ihrer Worte verstehen und dass es keinen Raum für Unklarheiten geben würde. «Du hast keinen Grund dazu und ich bitte Dich nicht nach Problemen zu suchen, wo vielleicht gar keine vorhanden sind und Dir so viel Kummer und Unruhe verursacht.» Sie zog ihren Zeigefinger zurück und legte ihre Hand wieder auf die seine, ohne dabei auch nur einen Moment den Kontakt mit seinen Augen zu verlieren, Augen, die mittlerweile ruhiger geworden waren und die sie konzentriert anschauten. Sein ganzer Körper entspannte sich langsam und die angestrengte Spannung der letzten Minuten wich einer Stimmung, die mir die Vertrautheit dieser beiden Menschen vor Augen führte, etwas, was nun beinahe mit Händen zu greifen in der Luft lag. «Ich weiss wie wichtig Sicherheit für Dich ist», fuhr sie nun fort und er nickte beinahe unmerklich mit seinem Kopf, wie um zu zeigen, dass sie mit diesem Satz einen zentralen Punkt ansprach, «und das ist es auch für mich. Doch dass wir beide in unserem Leben eine Rolle wahrnehmen, die uns vieles abverlangt und wo wir nicht einfach herausschlüpfen können ist ebenfalls klar und war immer auch ein Teil unserer Beziehung, der uns in gewisse Schranken wies und uns daran hinderte, nur das zu tun, was unsere Gefühle uns sagten. Das war und ist nicht immer einfach gewesen.» Er wollte bereits etwas entgegnen, doch ein beinahe unmerkliches Zusammenziehen ihrer Augenbrauen zeigte ihm, dass jetzt noch nicht der Moment gekommen war, sie zu unterbrechen, noch war nicht alles gesagt, was sie ihm mitteilen wollte. «Grosse Veränderungen im Leben brauchen Zeit, Vertrauen und die Bereitschaft…» hub sie wieder an zu sprechen, doch in diesem Augenblick trat eine Gruppe ausgelassener Jugendlicher in die Reihen der säuberlich aufgestellten Tischchen auf dem Gehsteig, rückte drei davon zu einem grossen zusammen, setzte sich und bestellte lautstark bei dem rasch hinzugeeilten Kellner eine Auswahl von Eis. In dieser Lärmglocke konnte ich dem Gespräch des Paares nicht mehr folgen, die Worte verloren sich haltlos, gingen für mich ungehört unter und ich konnte nichts mehr weiter verstehen, auch wenn ich sah, dass ihre Lippen sich bewegten und er seinen Kopf ab und an leicht bewegte, wie um zu zeigen, dass er ihr ganz und gar folgte und das Gehörte in sich aufnahm, wog und mit den Zeichen seines Kopfes quittierte. An meinem aufkommenden Missfallen konnte ich messen, wie lieb mir diese Konversation zwischen diesen Menschen in dieser kurzen Zeit der unausgesprochenen Begegnung bereits geworden war und es dünkte mich kaum begreiflich, dass ich dessen Fortgang nicht mehr weiterverfolgen konnte. Doch noch einmal konnte ich kurz in ihr privates Leben eintauchen und mich zu einem Zeugen aufschwingen, dessen Existenz den beiden gar nicht bekannt war, denn als sie endlich nach ein paar endlosen Minuten aufstanden und Hand in Hand davonschlenderten, kamen sie nochmals nahe genug an meinem Stuhl vorbei, wo ich mich inzwischen mit viel Unruhe hinter der Tageszeitung verschanzt hatte, um mein ungehöriges Interesse ein wenig zu kaschieren, so dass ich diese letzten, vielleicht entscheidenden Sätze ihres Gespräches noch erhaschen konnte. «Ich habe mich bereits entschieden, mein Liebster. Ich werde zu Dir kommen. Gib mir noch ein wenig Zeit, aber ich werde kommen.»

Noch lange blieb mein Blick an diesem Paar hängen, das sich nun langsam in der anonymen Menge der Menschen verlor, die sich auf dem Gehsteig in munteren Gesprächen, lachend und diesen Frühsommertag geniessend bewegte und sie endlich vollständig verschwinden liess. Ich lächelte unwillkürlich, denn es musste ein gutes Gespräch zwischen den beiden gewesen sein, eines, worin das gesagt worden war, was beiden vorher so viel Kummer bereitet hatte und was einer Klarheit bedurfte, die nicht mehr zu hinterfragen war und mir dadurch vor Augen führte, wie wichtig es ist, sich mitzuteilen, sich zu öffnen und zuzulassen, dass auch die verletzliche Seite von einem selbst gezeigt werden darf und ausgesprochen werden soll, was einen tief in seinem Innern bewegt, wenn es darum geht, sich den Menschen gegenüber, die man liebt, ganz und gar ehrlich und in gewissem Sinne auch schutzlos zu zeigen. Denn nur wenn man es riskiert und aushalten kann, dass der andere auf seine Art reagiert, kann man Wahrheiten und Antworten erlangen. Darin lag eine grosse Kraft, vertrauen zu können und dadurch seine Segel im Leben richtig in den Wind zu stellen, so dass es möglich wird, die Ziele zu verfolgen, die einen weiterbringen und die von zeitlosem Bestand sind. Das war mir heute klar geworden.

Als ich bezahlt und meinen Hut wieder aufgesetzt hatte, entschied ich mich ganz bewusst in die andere Richtung zu gehen, um nicht nochmals ein Zusammentreffen mit dem mir liebgewordenen Paar zu riskieren. Nicht aus Scheu vor einer erneuten Begegnung, aber ich wollte mir dieses Geschenk, das diese beiden mir ganz ohne ihr Wissen gemacht haben, nicht durch eine weitere, vielleicht ganz alltägliche Episode in seinem Wert mindern lassen. Ich war heute ganz unverhofft Zeuge einer Lektion fürs Leben geworden, die ich mir zu Herzen nehmen und deren Saat ich nun aufgehen lassen wollte. Dieser Tag schien mir dazu angetan, vielleicht ein neues Kapitel aufzuschlagen und den Menschen, die mir nahe standen mehr von mir zu zeigen. Ganz in solche, mir noch neue und unvertraute Gedanken versunken, schlenderte ich den Gehsteig entlang, genoss den Glanz der warmen Sonnenstrahlen in meinen Augen und schon bald wurde es mir warm, so dass ich mein Jackett auszog, die eng gezogene Schlinge meiner Krawatte ein wenig lockerte, um mir den obersten Knopf meines Hemds zu öffnen und dann, mit dem Jackett zwanglos über die linke Schulter geworfen, den Weg in Richtung Stadtpark einzuschlagen,

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