DaFabula

Erwacht

Erwin erwacht. Finsternis umhüllt ihn ganz eng. Es ist kalt. Er ist nackt. Komplette Unbeweglichkeit. «Wo bin ich?» hämmert es in seinem Kopf «Was ist passiert?». Plötzlich öffnet sich eine Luke. Grelles Licht schneidet in das Dunkel. Seine offenen Augen schmerzen, doch er kann sie nicht schliessen. Erwin wird herausgezogen. Er liegt auf einer Art Bahre. Über ihm ziehen Neonröhren gleissende Bahnen in die weisse Decke. Zwei Männer heben ihn an und betten ihn auf einen weichen Untergrund. «Ein Sarg» jagt es ihm durch den Kopf. Als einer der Männer sich über ihn beugt, schaut er ihm direkt in die Augen. «Ich lebe!» schreit es in Erwin. Er versucht mit den Augen zu rollen. Unmöglich. Routiniert schliesst der Bestatter seine Lider. Er wird für die Aufbahrung vorbereitet. Sie waschen seinen Körper und kleiden ihn an. Sein blauer Lieblingsanzug, ein weisses Hemd und eine dezent gemusterte Krawatte. «So macht er was her, der alte Knabe» hört er einen der Männer frotzeln. «Nur das Beste ist gut genug. Schau dir diesen wunderbaren, schweren Holzsarg an und all diese Polsterungen.» Sie karren ihn in den gekühlten Aufbahrungsraum. Erwin ist wieder allein.

Tags darauf kommt seine Familie, seine Freunde, seine Bekannten. Sie stehen an seinem offenen Sarg und erzählen sich Geschichten über ihn. Einige sind erschütternd, andere erfreulich. Doch er kann sich in keiner erkennen. «Warum habe ich mich nie geöffnet, nie jemandem vertraut?» Als seine Frau noch ein letztes Mal zu ihm kommt, bringt sie Cindy mit, die treue Russel Terrier Hündin. Seit Jahren steht sie ihm eigentlich am nächsten. Cindy ist unruhig. Plötzlich fängt sie an mit dem Schwanz zu wedeln. Sie bellt. Dann springt sie mit einem Satz in den offenen Sarg, legt sich ihm auf die Brust und beginnt sein Gesicht abzulecken. Erwin spürt es ganz deutlich. Er freut sich, ist aber zugleich unendlich traurig. Tränen rinnen ihm über das Gesicht. Doch wo seine Frau sich über ihn beugt, um die Hündin sachte wegzuheben, hat diese die salzigen Tränen bereits weggeleckt.

Eine weitere Nacht in der Aufbahrungshalle. Allein. Sein ganzes Leben zieht in grossen Bildern an ihm vorbei. Er ist noch nicht bereit zu sterben. Es gibt noch so viele Dinge zu regeln. Warum erst jetzt? Mit aller Kraft versucht er die Starre zu durchbrechen. Vergeblich. Nur ein einziges Mal durchläuft ein Schauder seinen reglosen Körper. Dabei rutscht das schön gearbeitete Holzkreuz, das man ihm in die gefalteten Hände gelegt hat, zur Seite weg und verschwindet neben ihm in der Tiefe des Sargs.

Als die Bestatter wieder erscheinen, suchen sie ärgerlich nach dem Kreuz. Unsanft wird sein Körper hin und her gewendet. Schliesslich müssen sie ihn zu dritt nochmals anheben, bis sie das Kreuz finden. Lieblos stecken sie es wieder in seine reglosen, steifen Hände zurück. Während dieser Prozedur versucht Erwin verzweifelt sich bemerkbar zu machen. Es gelingt ihm nicht. Die Männer wenden sich gerade wieder von ihm ab, da zuckt ganz kurz sein rechtes Augenlid.

Brausende Orgelklänge. Raumfüllend. Erwin liegt aufgebahrt im Mittelschiff der Kapelle und lauscht den salbungsvollen Worten des Pfarrers, der über sein Leben referiert. «Wie wenig der mich kennt» und auch die kurze Ansprache von seinem einzigen Sohn ist nichts als eine Aneinanderreihung von Nebensächlichkeiten. Er hat anscheinend kaum Spuren in seinem Leben hinterlassen. Wieder versucht er sich mit aller Kraft zu melden. Als er endlich ein leises Stöhnen zustande bringt, beginnt die Trauergemeinde, angeleitet vom Pfarrer, gerade das ‘Vaterunser’ zu beten. Niemand hört ihn. Er gibt nicht auf. Mit unmenschlicher Anstrengung kann er seine Augen halb öffnen und sieht gerade noch wie sich der Sargdeckel über ihm schliesst. Der Sarg wird angehoben. Da entringt sich ein leiser, verzweifelter Seufzer seiner Brust und geht unter im Takt der gewogenen Schritte auf den kalten Steinplatten. Erwin weiss genau, wohin er gebracht wird. Das Familiengrab, direkt unter der mächtigen Trauerweide neben der Kirche. Mit Cindy war er schon oft dort gewesen.

Sein Sarg wird langsam in das offene Grab hinuntergelassen. Die letzten Segensworte des Pfarrers dringen dumpf bis zu Erwin hinunter. Er presst ein anschwellendes Wimmern aus sich heraus. Die Trauergäste beginnen sich von ihm zu verabschieden. Je eine kleine Schaufel voll Erde und eine weisse Rose, lassen sie auf den Sargdeckel fallen. Wie von fern hört Erwin das leise Prasseln. Ein irres Lachen verlässt seine regungslosen Lippen. Doch niemand vernimmt es. Da plötzlich beginnt sich die Starre zu lösen. Quälend langsam. Zuerst kann er nur die Zehen bewegen. Dann steigt das Gefühl kribbelnd in seinen Beinen hoch. Dann weiter zum Rumpf. Er fängt an sich zu bewegen. Als das Gefühl schliesslich seine Hände erreicht hat beginnt er panisch mit Händen und Füssen gegen den schweren Sargdeckel zu stossen und zu treten. Doch die weiche Polsterung schluckt jeden Ton. Dunkelheit und Enge. Seine Stimme wird kräftiger. Erwin fängt an zu schreien, zu toben. Die Trauergemeinde stimmt einen letzten Choral an. Der Sargdeckel ist jetzt dünn mit Erde und langstieligen Rosen bedeckt. Erwin gibt erschöpft auf. Der Gesang verstummt und er hört dumpf eine diffuse Gesprächswolke über sich. Plötzlich das Bellen von Cindy. Erwin hofft wieder. Er stöhnt, er schreit. Doch schon bald entfernt sich die Geräuschwolke und es wird ganz ruhig. Totenstille. Er atmet nur noch ganz flach. Durch sein wildes um sich schlagen hat er praktisch alle Luftreserven in seinem Sarg verbraucht. Sein Herz rast und in seinem Kopf verschwimmt alles.

 

Stimmen? Nochmals horcht er angestrengt. Weit entfernt sprechen zwei Männer miteinander. «Fast schon schade um diese wunderschönen Rosen» sagt der eine. «Das ist der Lauf der Dinge und auch die letzte Ruhestätte soll etwas Schönes für sich haben» entgegnet der andere. Erwin hört noch wie ein Motor gestartet wird und wie grosse Erdklumpen schwer auf den Sargdeckel herunterfallen. Erwin ist wach.

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