Der Duft war betörend, süss und weich und verzauberte ihn augenblicklich. Vor ihm stand eine mächtige Linde mitten auf einer weiten Wiese, die mit bunten Blumen betupft war. Dahinter zeichnete sich die Silhouette des Waldes gegen den Horizont ab. Ein blauer Himmel, nur mit ein paar Wolken geschmückt, spannte sich über diese Landschaft. Der verspielte Wind verfing sich in der ausladenden Krone der Linde und wiegte einige Äste sanft hin und her. Die Blätter wisperten dabei ihr leises Lied. Er lauschte und machte ein paar Schritte auf den Baum zu. Dann liess er seine rechte Hand über die Rinde des Stammes gleiten. Sie fühlte sich rau und interessant an und erzählte von all den Jahren, die dieser Baum bereits hier stand. Wie viele Menschenleben hatte er bereits gesehen? Wie sie kamen und wieder vergingen. Wie viele Geheimnisse wurden im Schutz seiner Krone schon geflüstert und obwohl sie schon längst keines Schweigens mehr bedurften, hielt er sie weiter bei sich verborgen. Es ging eine ruhige und doch starke Energie von diesem Baum aus, der fest verwurzelt im Boden wie ein Sinnbild für das Leben stand. Dies war ihr Treffpunkt. Immer schon gewesen. Es fühlte sich alles so vertraut an und doch irgendwie unwirklich. Ohne gross nachzudenken ahmte er den kurzen Ruf einer Meise nach. Ihr gemeinsames Zeichen. Als er dann seinen Blick hob, sah er sie vom Wald her auf ihn zukommen. Sie trug das weisse Sommerkleid aus Leinen, das sie so mochte und das bei jeder Bewegung ihren Körper umfloss. Ihr hellbraunes Haar hatte sie zu einem Zopf nach hinten gebunden und ein Strohhut mit einem roten Band gab ihrem Aussehen etwas Freches. Sie liess ihren rechten Arm baumeln und streichelte sanft mit dem Handrücken die hohen Halme der Gräser. In der linken Hand hielt sie ihre weissen Turnschuhe. Sie ging barfuss durch die Wiese. Ganz leicht. Fast schwebend. Als sie schon ganz nahe war begann sie zu lächeln und er sah die Grübchen in ihren Wangen, die er an ihr so sehr mochte. Sie wirkte jung und strahlend. Als er sie in den Arm nahm, sahen sie sich an. Der Blick ihrer wasserblauen Augen war sanft und er versank darin. Er liess alles los, schloss seine Lider und sah, was sie ihm zeigen wollte. Er sah Bilder wie Blasen in sich aufsteigen: ihr erstes Treffen, ihre Hochzeit, die Sorge um sie, als sie ernsthaft erkrankte, ihre Kinder, ihre Rituale und kleinen Spielereien, den Abschied von den Eltern. Eine Zeitreise. Er durchlebte Episoden aus all den Jahren, die sie zusammen waren und dabei durchströmten ihn Gefühle wie ein rauschender Fluss, rissen ihn mit, liessen ihn leiden, sich freuen und spüren, wie er eins mit ihr geworden war und wie doch jeder sich selber bleiben konnte. Alles war ungemein nah, fühlte sich an, als würde es gerade passieren. Und trotzdem wusste er, dass dies nicht sein konnte. Was geschah hier? Von weit her hörte er jemanden rufen. Doch er ignorierte es. Er öffnete seine Augen wieder und nahm verwundert war, wie sich die Frau in seinen Armen veränderte, älter und zugleich tiefer wurde, wie sich die Spannung in ihrem Körper anders anfühlte und sie doch in jedem Augenblick dieselbe blieb, die er liebte. Wieder eine Stimme. Dieses Mal näher und eindringlicher. Sie schauten sich an, erkannten einander in ihrer Gemeinsamkeit. Dann legte sie ihre rechte Handfläche auf seine Brust und er hörte ihre warme Stimme: «Geh jetzt, es ist gut».
Als er die Augen langsam wieder öffnete sah er die Umrisse einer Gestalt, die sich über ihn beugte. «Wachen Sie auf, Herr Eicher». Es musste ein Arzt sein und als dieser merkte, dass er langsam zu sich kam, fuhr er fort: «Sie sind im Spital Hohenegg und waren lange Zeit bewusstlos. Sie und ihre Frau hatten einen schweren Autounfall. Ich muss Ihnen leider etwas sagen…» In diesem Augenblick war das Rufen einer Meise durch das offene Fenster neben dem Bett zu vernehmen. Er schloss seine Augen wieder und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Man musste ihm nichts mehr sagen. Er wusste bereits alles.