Da stand sie. Es musste sie sein. Grit.
Gerade war er auf dieser Ü-40-Sylvesterparty eingetroffen, zu der er sich hatte von seinem Freund Jörg überreden lassen. „Nur nicht an so einen Ort, wo sich alle betroffen anschauen und jeder denkt, dass der andere einsam ist. Das ist sowas von peinlich.“ Doch schliesslich hatte er nachgegeben und nun war er hier.
Die Stimmung war ausgelassen, die Gäste tanzten. Es wurde viel gelacht und geflirtet. Der grosse Festsaal war üppig geschmückt, das Buffet bot eine grosse Zahl an leckeren Gerichten an und die Getränkeauswahl liess keine Wünsche offen. Jörg war in bester Feierlaune. Nur Michael nicht. Nicht mehr. Er stand einfach da, sein leeres Glas in der Hand und mit einem ratlosen Gesichtsausdruck.
Grit und Michael lernten sich damals an der Universität kennen, an der sich beide für BWL eingeschrieben hatten. Wobei kennenlernen vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck ist, für das was geschah. Michael war wieder einmal in Eile und schaffte es gerade noch auf den letzten Drücker in den übervollen Hörsaal. Er versuchte sich möglichst unbemerkt in eine der hinteren Reihen zu quetschen. Leider kam dabei sein Kaffeebecher, der zuoberst auf dem Stapel seiner Bücher stand, ins Rutschen und landete im Schoss einer jungen Frau. Das war Grit. Als sie zu Michael hochschaute, seine erschrockenen Augen sah und bemerkte, dass seine Wangen zu glühen begannen, konnte sie ihm nicht böse sein. Er stotterte verlegen, „Entschuldigung, es tut mir ja so leid“. Sie musste lachen, nahm ihm seine Bücher ab und zog ihn an der Hand runter auf den Stuhl neben sich. „Die Reinigung zahlst aber du“, raunte sie ihm zu und drehte sich dann wieder in Richtung des Rednerpults.
„Was ist los mit Dir, machst du einen auf Spassbremse?“ Jörg zog ein beleidigtes Gesicht. Michael erwachte wie aus einem Traum und schaute seinen Freund erstaunt an. Er hatte tatsächlich nichts mitbekommen. „Ich gehe jetzt auf die Tanzfläche und du wirst dich nun ordentlich amüsieren. Das ist ein Befehl!“ Jörg deutete einen militärischen Gruss an, drehte sich um und verschwand im Getümmel.
„Ist sie das wirklich?“ Michael blickte wieder konzentriert zu einer kleinen Gruppe hinüber, die sich gerade an der Bar bediente.
Grit und Michael verstanden sich auf Anhieb gut. Sie verbrachten viel Zeit miteinander. Auf dem Campus, wenn sie angeregt über den Stoff der letzten Vorlesung diskutierten, oder in der Bibliothek, um zu einem Thema zu recherchieren. Und auch wenn sie oftmals sehr gegensätzliche Standpunkte vertraten, erlebten sie gerade ihre Gegensätzlichkeit als spannend. Im Laufe der Zeit kamen sie sich immer näher, doch Michael wagte den nächsten Schritt nicht. „Warum habe ich ihr nie gesagt, was sie mir bedeutet?“ Er wusste keine Antwort auf diese Frage. Er wusste nur, dass er seither nie mehr eine Frau wie Grit getroffen hatte. Er fühlte sich oftmals unverstanden. Gerade wenn er wieder einmal ein Date hatte. Was selten genug der Fall war.
Michael stand immer noch wie angewurzelt da und starrte über die Tanzfläche zur Bar hinüber. Langsam griff er mit der rechten Hand an seinen Hals, wo er nach einem kleinen, runden Gegenstand tastete, der sich leicht unter seinem Rollkragenpullover abzeichnete.
Als an der Uni über die Geschichte des Geldes doziert wurde, zeigte Michael Grit seine Glücksbringer. In seinem Geldbeutel bewahrte er zwei Münzen auf, die er als Kind gefunden hatte. Es waren zwei kleine, kupferne 1- Pfennig Münzen aus dem Jahr 1948. Die Zeit der Währungsreform, wie ihm sein Vater erklärte. „Du bist meine Nummer 1“, sagte Michael plötzlich, bekam rotglühende Wangen und überreichte ihr feierlich eine der glänzenden Münzen. Grit musste lachen, wusste sie doch, wie schwer er sich mit emotionalen Dingen tat. „Danke“, sagte sie, nahm die Münze aus seiner Hand und küsste ihn ganz leicht auf die Wange.
„Die Haare, das Profil, die Art, wie sie sich beim Lachen leicht nach vorne neigt.“ Sollte er es wagen hinzugehen und sie anzusprechen? Doch was, wenn es nicht Grit ist? „Reiss dich zusammen“, seine Gesichtszüge nahmen einen entschlossenen Ausdruck an, „ein zweites Mal machst du nicht den gleichen Fehler“. Er gab sich einen Ruck, nahm zwei Gläser Champagner vom Tablett eines Kellners und lief los.
Praktisch von einem Tag auf den anderen verloren sie sich damals aus den Augen. Er bekam die Chance an einer renommierten Universität in den USA weiter zu studieren. Sein Vater hatte das mit seinen Verbindungen eingefädelt. Für Michael war es der Grundstein für seine erfolgreiche Karriere als Unternehmensberater. Deswegen reist er seither ständig in der Welt herum. Doch Grit hatte er nie vergessen.
Michael überquerte die Tanzfläche. Die Frau war nur noch wenige Meter entfernt. Sie trug ein schlichtes helles Kleid aus einem weich fliessenden Stoff. Gerade als er sie ansprechen wollte, stolperte er über einen Partyhut und landete unsanft direkt vor ihr. Der Champagner verteilte sich gleichmässig auf ihrem Kleid.
„Immer noch so tollpatschig, wie ich sehe“, sagte die Frau und streckte ihm die Hand entgegen. Für einen Moment blitzte eine kleine kupferne Münze im Licht auf, die an einem Armband hing. Michael war verwirrt, errötete und stotterte: „Entschuldigung. Es tut mir furchtbar leid“. Er blickte hoch und sah das lächelnde Gesicht von Grit. Sie half ihm aufzustehen. „Dafür bist du mir aber einen Tanz schuldig.“ Sie zog ihn auf die Tanzfläche. Sie tanzten und lachten. Man konnte spüren, dass sie sich kannten. Es lag etwas Vertrautes in der Art, wie sie sich ansahen.
Kurz vor Mitternacht, suchte Jörg seinen Freund. Plötzlich sah er sie. Hand in Hand standen sie auf der Tanzfläche. Die Musik verstummte und man konnte durch die geöffneten Fenster die Glockenschläge von der nahen Kirchturmuhr hören.
„Happy New Year, Grit”, sagte Michael leise. „Happy New Year, Michael”, erwiderte sie lächelnd und mit dem ersten Feuerwerk des neuen Jahres, fanden sie sich in einem zärtlichen Kuss wieder.