„Heile du mich Herr, so werde ich heil, hilf mir, so ist mir geholfen!“ Als Pfar-rer Rothen diese Worte aus Jeremia 17 zum Abschluss seiner Predigt sprach, liess er seinen Blick über die Anwesenden gleiten. Ganz aussen in der ersten Reihe sass eine alte Frau. Ihre Haut war seltsam bleich und glä-sern. Sie drehte langsam ihren Kopf zu ihm hin und der Blick ihrer lodernden Augen bohrte sich in die seinen. „Hilf mir!“ Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Dann war die Frau weg. Pfarrer Rothen schaute irritiert nochmals hin. Doch die Gestalt war nicht mehr da.
Später an diesem Sonntag nahm Pfarrer Rothen noch die Beichte ab. Die letzte Person, die in den Beichtstuhl trat, setzte sich lautlos auf die Bank. Als Pfarrer Rothen aufsah, durchfuhr ihn ein Schreck. Wieder sass die alte Frau vor ihm. Er konnte ihr Gesicht nur unscharf hinter dem Geflecht des Trennfensters erkennen. Doch er sah ihre Lippen. Wieder diese Worte, eindringlich geflüstert: „Hilf mir!“ Ein eiskalter Hauch schlug ihm entgegen. Dann war die Gestalt weg. Rasch riss Pfarrer Rothen den Vorhang der Nebenkabine zur Seite und blickte hinein. Doch dort war nur noch eine grosse, schwarze Katze, die ihn mit funkelnden Augen ansah und mit einem bösen Fauchen an ihm vorbei sprang.
Am späten Abend sass Pfarrer Rothen wie gewohnt an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer und las in der Bibel. Plötzlich stiess eine starke Windböe das Fenster auf. Er schoss aus seinem Stuhl auf, warf dabei die Bibel zu Boden und hastete zu dem grossen Fenster, wo ihn ein wild tanzender, aufgebauschter Vorhang empfing. Als er das Fenster mit einiger Mühe endlich wieder geschlossen hatte, stand er noch ein paar Augenblicke schwer atmend vor der grossen Glasfläche. Draussen wütete ein heftiges Gewitter. Gleissende Blitze zerrissen den dunklen Himmel und Donner rollte durch die Nacht. Da sah er in der Spiegelung der Scheibe eine schmale Gestalt, die neben dem Schreibtisch stand und mit ausgestrecktem Finger auf ihn zeigte. „Wieder diese Frau“, ging es Pfarrer Rothen durch den Kopf. Er wirbelte um seine Achse. Da stand niemand mehr. „Ich bin überarbeitet“, beschwichtigte er sich selber. „Es ist besser ich gehe zu Bett.“ In Gedanken versunken hob er die zu Boden gefallene Bibel auf. Als sein Blick flüchtig über die aufgeschlagenen Seiten schweifte, blitzte plötzlich eine Textstelle hell auf: „Stehe mir bei, Herr, mein Gott! Hilf mir nach deiner Gnade.“ „Wieder dieses ‚Hilf mir‘. Warum bloss?“ Pfarrer Rothen musste an die Frauengestalt denken. Was sollte dies alles bedeuten?
In dieser Nacht träumte er unruhig und in wirren Bildern. Ihm war, als ver-spürte er einen starken Druck auf seinem Herz und es schnürte ihm die Luft ab. Als er schweissgebadet aufschreckte sah er direkt in die glimmenden Augen der schwarzen Katze, die auf seiner Brust sass. Sein Herz raste. Der Vollmond liess sein fahles Licht in den Raum fliessen und Pfarrer Rothen sah gerade noch wie die Katze aus der Tür huschte. Das war genug. Nun wollte er handeln. Rasch stand er auf, warf sich flüchtig seine Kleider über und folgte der Katze. Draussen empfing ihn ein entfesseltes Gewitter. Vom Kirchturm schlug es gerade Mitternacht. Zwölf dumpfe Glockenschläge, die durch die stürmische Nacht hallten. Pfarrer Rothen zog seinen Kragen enger zusammen und blickte mit suchenden Augen um sich. Da, die Katze schien auf ihn zu warten und blickte ihn direkt an. Ihre Augen leuchteten wie zwei glühende Kohlenstücke. Wispernde Stimmen umwehten den Pfarrer, dessen nasse Kleider vom Wind gepeitscht um seinen Körper flatterten. „Hilf mir!“ Er drückte sich den Hut tiefer in die Stirn und schritt tüchtig aus. Immer darauf bedacht, die Katze nicht aus den Augen zu verlieren.
„Hätte ich bloss eine Taschenlampe mitgenommen“, dachte er, als er gerade wieder in eine tiefe Pfütze trat. Seine Schuhe waren vollständig durchweicht und verdreckt. Die grosse schwarze Katze lief immer noch vor ihm her, hielt ab und an inne und schaute zu ihm zurück, so als wollte sie sich versichern, dass er ihr folgte. Mittlerweile waren sie auf einem Waldweg unterwegs, den er nicht kannte. Vom Wind gepeitschte Äste geisselten seinen nassen Umhang. Da zuckte ein flammender Blitz durch den Himmel und erleuchtete für einen Moment die Umrisse eines alten Holzhauses. „Ich wusste gar nicht, dass hier noch jemand wohnt.“ Ein loser Fensterladen klappte rhythmisch gegen die Wand. „Hilf mir!“. Der Wind trug wieder diese Worte zu ihm heran. Er konnte nicht verorten, woher es kam. Er schaute sich um und musste dabei seine Augen vor den peitschenden Regentropfen schützen. Wo war die Katze? Er konnte sie nicht mehr sehen. „Egal, ich muss herausfinden, wer hier wohnt“, schoss es ihm durch den Kopf und er ging hastig weiter. Die Zauntür schwang lose in den Angeln, so dass er ungehindert in den verwilderten Garten treten konnte. Die Haustür war verriegelt. Was sollte er tun? Durfte er hier einfach so eindringen? Doch er wollte sich nicht weiter darüber aufhalten. Mit dem ganzen Gewicht seines massigen Körpers drückte er die Türe nach innen auf.
Im Haus umfing ihn sofort dicke, abgestandene Luft. Es stank infernalisch. Er konnte es nicht zuordnen. „Hier war wohl lange schon niemand mehr.“ Das düstere Schummerlicht, liess nur die Konturen der umstehenden Möbel erkennen. In diesem Augenblick flog die Türe mit einem lauten Knall wieder ins Schloss. Stille und Dunkelheit. Vorsichtig tastete er sich durch den Raum. Er hatte zuvor einen Kerzenständer gesehen. Dort waren sicherlich auch Zündhölzer. Als er beides fand und die Kerze angezündet hatte, konnte er sich im halbdunklen Raum umsehen. Überall auf den Möbeln standen leere Büchsen und aufgerissene Packungen mit Katzenfutter herum. „Kommt daher der Gestank?“ Sein Blick wanderte weiter. Er erschrak. Ein grosses Bett stand an der Rückwand und darin konnte er undeutlich die Umrisse eines Körpers unter einer Decke erkennen. Langsam trat er an das Bett heran.
Vor ihm lag der reglose Körper einer Frau. Rasch drückte er ein Taschen-tuch vor seine Nase. Dann zwang er sich näher hinzusehen. Im flackernden Schein der Kerze betrachtete er das eingefallene, wächserne Gesicht der Frau. Dieselbe Frau, die er in den letzten Tagen bereits gesehen hatte. Ihre Augen waren weit geöffnet und ihr Unterkiefer war nach unten gefallen. Plötzlich bemerkte er, dass ihr rechter Arm unter der Decke hervorragte und der ausgestreckte Zeigefinger der Hand in eine Ecke des Zimmers deutete. Zitternd bewegte Pfarrer Rothen seine Kerze in die angezeigte Richtung. Als schliesslich der unruhige Lichtkegel die Ecke ausleuchtete, sah er zu seiner Überraschung die Katze wieder. Sie war tot. Um sie herum lag ein Wurf von sechs kleinen Kätzchen, die sich ängstlich und hungrig an sie schmiegten. Nun wusste er, warum er hierhin geführt worden war.
Als Pfarrer Rothen einige Tage später am Grab der alten Frau eine schlichte Abdankungsfeier abhielt, schweifte sein Blick hinüber zu dem Grabstein. Ein schlichter Stein mit einem Relief, das sechs kleine Kätzchen mit ihrer Mutter darstellte. Darunter war ein Psalm Spruch eingemeisselt: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten“.
 
				 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		 
						
							
		