DaFabula

Kälte

Ein stechender Schmerz durchzuckte sein rechtes Bein, als er sich bewegte. Er lag in einer eigenartig verdrehten Position auf dem Rücken im Schnee. Ein schwaches Stöhnen, begleitet von einem Atemhauch, der in der frostigen Luft augenblicklich zerfloss. Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch seine Lider fühlten sich unendlich schwer an. Als er es endlich schaffte, blickte er in einen weiten, sternenübersäten Himmel auf. ‘Was ist passiert und wie lange bin ich schon hier?’ Er lag verloren und verletzt im endlosen Weiss des Schnees. Langsam kam die Erinnerung zurück. ‘Ich bin auf einer Skitour abgestürzt.’ Die eisige Stille der vergehenden Nacht umhüllte ihn eng. Ihm war kalt. Noch war die fahle Sichel des Mondes zu sehen, doch der Horizont begann sich bereits in zarten Rosa- und Lilatönen zu färben. Als wollte die aufgehende Sonne selbst ihm neuen Mut schenken. Die weisse Schneedecke begann zu glitzern unter dem ersten Licht des Tages. Die beissende Kälte, die durch seine Kleidung drang, überwältigte ihn langsam. Er spürte den scharfen Wind, der sein Gesicht mit tausend nadelfeinen Stichen traktierte. In dieser schmerzhaften Klarheit lag aber auch eine seltsame Ruhe. Ihm war, als ob die Welt angehalten hätte sich zu drehen, um ihm diesen Augenblick zu schenken. Um zu sehen und endlich zu verstehen.

 

Zwischen Wachen und Träumen schwebend, begann sein Geist, Bilder aus seinem bisherigen Leben heraufzubeschwören. Er sah sich als Kind, sorglos und lachend, beim Herumtollen im Garten seiner Grosseltern. Die Wärme jener Sommertage schien für einen Moment den eisigen Griff der Gegenwart zu durchbrechen. Er erinnerte sich an die erste Liebe und jenen süssen Schmerz des Abschieds. Er empfand Trauer und spürte Freude. Beides liegt so nahe beieinander. Plötzlich sah er seine Frau. Lachend und mit leuchtenden Augen. Ganz nah. Hoffnungsvoll versuchte er sich aufzurichten und seine Hand nach ihr auszustrecken. Doch er schaffte es nicht und das Bild verblasste. Erschöpft sank er zurück in die Kälte des Schnees. Eine bodenlose Einsamkeit sank in ihn hinein.

 

Stille. Die Berge, diese uralten Wächter der Erde, standen schweigend um ihn herum und blickten ihn an. Ihre majestätische Erhabenheit drückte zugleich Ewigkeit und Vergänglichkeit aus. Und er, ein winziges Geschöpf in dieser gewaltigen Kulisse, fühlte sich unbedeutend und doch auf seltsame Weise verbunden mit allem um ihn herum. Er dachte an all die Wege, die er gegangen war, die Entscheidungen, die er getroffen hatte. Ein Leben voller Höhen und Tiefen, die ihm nun so fern und zugleich so nah erschienen. In diesem Moment der absoluten Klarheit erkannte er, dass der Frieden, den er suchte, nicht in der Flucht oder im Kampf lag, sondern im Annehmen dessen, was ist.

 

Die Sonne hob sich höher und ihre Strahlen berührten sanft sein Gesicht. Der Schnee um ihn herum war pures, kristallines Weiss. Ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit durchströmte ihn. Für die Momente des Glücks und der Prüfungen in seinem Leben. Sie hatten ihn geformt und zu dem Menschen gemacht, der er heute war. Und während er dort lag, inmitten der kargen Schönheit der Berge, verstand er, dass er Teil eines größeren Ganzen war, ein feiner Faden im unendlichen Gewebe des Lebens. Er lag ruhig im Schnee, spürte den Frieden, keine Kälte und keinen Schmerz mehr. Dann endlich schloss er die Augen wieder.

 

Am Horizont erschien ein schwarzer Punkt, der sich rasch auf ihn zu bewegte und das Knattern eines Helikopters zerfetzte die Stille, die über allem lag.

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