«Für Aline, Jérôme & Maurice und alle, die auf der Suche nach dem Sinn im Leben und ihrem Platz in der Welt sind»
Lena lag auf ihrem Bett und langweilte sich. Schon den ganzen Vormittag lag sie hier und fühlte sich unzufrieden. Mit sich, dem Leben und der ganzen Welt. Eigentlich wäre jetzt die schönste Zeit des Jahres: die Sommerferien hatten gerade erst begonnen. Doch bei Mama im Geschäft gab es kürzlich einige Abgänge und deshalb hatte ihr Chef sie gebeten, während der Sommerferien zu arbeiten. Natürlich musste sie zusagen, denn schliesslich durfte sie es sich mit ihrem Chef nicht verscherzen. Woher sollte auch sonst das Geld herkommen? Seit ihre Eltern sich vor einigen Jahren hatten scheiden lassen musste Mama ihr Geld gut einteilen. Es reichte zum Leben und auch für die eine oder andere kleine Freude, die sie sich ab und zu gönnten. Mama hätte nie geklagt, aber Lena wusste, dass es nicht einfach für sie war. Für sie beide nicht. Kürzlich waren sie nun auch noch umgezogen. Näher zu Mamas Arbeitsplatz, aber damit auch weg von ihrem gewohnten Umfeld, wo ihr alles so vertraut gewesen war. Weg von ihren alten Freunden, ihrer Schule und all den Orten, wo sie ihre unbeschwerte Kindheit verbracht hatte. Und auch weg von ihrer ersten Liebe. In der neuen Stadt, in der sie nun lebten, war für Lena alles noch irgendwie fremd. Es fühlte sich ungewohnt an und auch in ihrer neuen Schule fühlte sie sich nicht wohl. Sie spürte, dass sie anders war als die anderen und dies liessen sie ihre Mitschüler auch deutlich spüren. Bisher lebte sie auf dem Land. Dort war es nicht wichtig, die coolsten Kleider zu tragen oder immer das neuste Handy Modell zu haben. Auch die Umgangssprache war direkter und es waren praktisch keine Codes darin versteckt, die man kennen musste, damit man sie zum richtigen Zeitpunkt einsetzen konnte. Ihr ganzes bisheriges Leben war ruhiger und entspannter gewesen und sie bemerkte erst jetzt, wie sehr ihr dies alles fehlte. Somit stand immer noch eine unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrer neuen Umgebung, die sie bisher nicht durchbrechen konnte. Sie wusste auch nicht, wie sie das hätte machen können. Früher wäre ihr dies nie passiert. Sie bewegte sich mit ihrer fröhlichen und aufgeweckten Art mühelos durch ihren Alltag und sie fühlte sich in ihrem Freundeskreis gut aufgehoben und glücklich. Diese Leichtigkeit war ihr nun verlorengegangen und sie spürte, dass die örtliche Distanz schwierig zu überwinden war. Das Dorf, woher sie kam, war nicht wirklich weit weg. Doch auch wieder zu weit, um sich eben Mal kurz zu treffen, um zu plaudern. Es war nicht dasselbe, sich nur noch über das Handy und die sozialen Medien auszutauschen oder in einem Chatraum zu treffen. Sie probierte es, doch es fehlte das Echte, das Authentische, das Miteinandersein. All dies konnte die Nähe und die Vertrautheit nicht ersetzen. Ihre vertrauten Kontakte brachen langsam weg und neue bahnten sich nur sehr schwer an. Dies war für sie eine neue Erfahrung und machte sie betroffen. Dies alles bedeutete für sie nun sechs lange, öde Wochen in denen sie nicht verreisten. Nicht an die Ostsee, die sie so mochte und auch nicht in den Schwarzwald, wo sie schon einige Male ein kleines altes Holzhaus gemietet hatten. Ganz einfach, aber wunderbar romantisch. Und weil die Anfrage für das Durcharbeiten bei ihrer Mama erst so spät kam, waren auch die Anmeldetermine für ein Ferienlager schon längst abgelaufen. Keine Chance. Auch ihre Freunde von früher waren alle bereits verreist oder gerade noch mit den Vorbereitungen dazu beschäftigt. Eine unendlich lange Reihe von immer gleichen Tagen schien sich vor ihr auszubreiten. Das fand Lena absolut nicht toll. Sie hatte das Gefühl, dass alles Unglück dieser Welt auf ihren Schultern lasten würde und dass alle sie vergessen hätten.
„Das Leben ist nicht fair“, sprach sie leise zu sich selbst und stand auf.
Missmutig durchschritt sie ihr Zimmer, öffnete die Tür und trat ins Wohnzimmer, das still und verlassen vor ihr lag. Mama war weg bei der Arbeit. Ein dickes Bündel aus Sonnenstrahlen fiel durch das grosse Fenster ins Zimmer hinein und ergoss sie quer durch den Raum. ‚Wohin wohl diese Sonnenautobahn führt‘, dachte Lena neugierig und folgte dem Lichtstreif mit ihrem Blick. Er führte direkt zu dem grossen Büchergestell an der entgegengesetzten Wand und bildete dort eine Art Fenster aus Licht. Ihr Grossvater war ein grosser Bücherfreund gewesen und die meisten Bücher waren noch von ihm. Lena musste lächeln, als sie an die vielen Vorlesestunden dachte. Es gehörte zu ihren schönsten Erinnerungen, wenn ihr Grossvater sich am Abend zu ihr an die Bettkante setzte und ihr eine Geschichte vorlas. „Alle Weisheit der Welt findest du in den Geschichten dieser Bücher. Höre ihnen zu und verstehe, was sie dir sagen wollen“, sagte er oft zu ihr. Nicht immer waren es Weisheiten, die Lena zu hören bekam. Oder waren Pippi Langstrumpf oder der Michel aus Lönneberga etwa weise? Doch wenn ihr Grossvater den grossen Märchenband von Hans Christian Andersen aufschlug, eines der Bücher, die er so schätzte, dann wusste sie, dass sie gleich einer ganz besonderen Geschichte lauschen würde. Nicht selten war Lena so ergriffen von diesen Texten, dass ihr die Tränen kamen. Wie sollte es auch anders sein, wenn das arme Mädchen mit den Schwefelhölzern, mit ihren blossen Füssen, im Winter keinen Ort in der Stadt fand um sich zu wärmen und schliesslich erfroren im Schnee sass, als man sie fand. Doch vorher hatte sie noch ihre Grossmutter gesehen und war glücklich. Oder der Schneemann, der sich unsterblich in den Anblick des Ofens verliebte, der sich mit dem roten Glanz des Feuers geschmückt hatte. Eine gefährliche Liebschaft. Bei diesen Geschichten fühlte sich Lena immer direkt angesprochen und sie konnte die Sehnsucht des Schneemanns nach Geborgenheit und den Wunsch des Mädchens Teil einer Familie zu sein, die gemeinsam das Fest der Weihnacht begeht, spüren und wurde selber mitgerissen von diesen Empfindungen und Bildern. Plötzlich tauchten beinahe vergessene Bilder in ihrem Kopf auf. Grossvater. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er in seinen altmodischen Kleidern auf dem bequemen Sessel sass, der heute noch im Wohnzimmer in der Ecke stand. Sie sah sein freundliches Gesicht, seine wachen, strahlend blauen Augen und das verschmitzte Lächeln. Er wohnte damals für ein paar Jahre bei ihnen. Lenas Eltern hatten sich gerade getrennt und so war es für ihre Mutter und ihren Vater eine sehr gute Lösung, dass er zu ihnen kam. Er lebte selber auch alleine und freute sich darauf, sich um Lena zu kümmern, wenn ihre Mutter arbeiten ging. Sie war damals ungefähr sieben Jahre alt und es begann eine unbeschwerte Zeit. Als er dann starb, konnte sie sich zuerst nicht vorstellen, was dies bedeutete. Noch lange suchte sie ihn jeden Tag, gleich nach dem Aufwachen, auf seinem Sessel und sie war jedes Mal enttäuscht, dass er nicht da war. Erst mit der Zeit, und nachdem Mama viel mit ihr darüber gesprochen hatte, realisierte Lena, dass ihr Grossvater nicht mehr zurückkommt. Er würde ihr auch keine Geschichten mehr vorlesen. Mittlerweile war Lena 14 Jahre alt geworden und sie spürte in diesem kurzen Moment der Erinnerung deutlich, dass ihr damals etwas Wertvolles genommen worden war.
Lena schlurfte in Socken über den blanken Parkettboden des Wohnzimmers. Sie war neugierig, was die Sonnenstrahlen ihr zeigen wollten. Das Lichtfenster war ganz oben auf das Bücherregal gefallen, welches praktisch die gesamte Wand ausfüllte. Rasch rückte Lena den Hocker vom Sofa an das Regal heran, stand darauf und musste sich trotzdem noch auf die Zehenspitzen stellen, um bis an diese Stelle reichen zu können. Sie streckte sich. ‚Noch ein paar Zentimeter‘, dachte sie, ‚dann komm ich ran.‘ Doch als sie gerade mit den ausgestreckten Fingern die ersten Bücherrücken berührte, kippte der kleine Hocker unter ihren Füssen weg. Lena griff instinktiv nach irgendetwas, was ihren Sturz verhindern würde. Doch zu spät. Sie fiel unsanft zu Boden. Lena blieb auf dem Rücken liegen und probierte vorsichtig aus, alles an ihrem Körper zu bewegen. ‚Die Beine tun’s noch, die Arme auch.‘ Ihren Kopf konnte sie ebenfalls noch bewegen, obwohl sie bereits wusste, dass sie eine richtig dicke Beule bekommen würde. Irgendetwas Hartes drückte gegen ihren Rücken. Ächzend rollte sich Lena seitlich weg und stützte sich auf ihren Unterarm. Da lag ein grosses Buch auf dem Boden. Nicht sonderlich dick, aber mit einem wunderlichen, altmodischen Einband. Sie griff sich das Buch.
„Die Erzählungen und Märchen von Oscar Wilde“, las Lena halblaut und dann noch, „Insel Verlag, Leipzig, 1910.“
Das schwere Buch hatte eine reich mit Goldschnitt verzierte Vorderseite. Lena fing an durch die Seiten des Buches zu blättern. Prächtige, zum Teil ganzseitige Illustrationen folgten jeder Geschichte. ‚Natürlich, das ist es‘, schoss es Lena durch den Kopf. Das war eines der Lieblingsbücher von Grossvater, aus dem er ihr oft vorgelesen hatte. Wunderschöne Geschichten, deren Sinn sie damals aber noch nicht richtig verstehen und einordnen konnte. Doch sie spürte die spezielle Atmosphäre, die diese Zeilen schufen. Nun hielt sie dieses Buch in ihren Händen. Wie lange schon hatte sie nicht mehr daran gedacht. Als Lena an diesem Tag zu Bett ging, legte sie das alte Buch vom Grossvater neben sich auf den Nachttisch.
Die Sehnsucht nach dem Schlaf
Es musste schon tief in der Nacht sein, als Lena plötzlich aufwachte. Sie hörte von irgendwoher ein Schluchzen. Erkennen konnte sie nichts, dazu war es viel zu dunkel. War das überhaupt ihr Zimmer und war dies ihr Bett? Sie griff neben sich und wollte ihr Handy nehmen, um sich damit ein wenig Licht zu machen. Doch es war nicht da. Der ganze Nachttisch war weg. ‚Was bedeutet das‘, dachte sie verwirrt. ‚Wo bin ich?‘ Sie stand langsam auf und bemerkte, dass sie ein langes, altmodisches Nachthemd trug. Ganz in Weiss. Es fiel ihr bis zu den Knöcheln. Der Boden unter ihren blossen Füssen musste aus Stein sein. Er war kalt, mit einer rauen Oberfläche. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und sie nahm schemenhaft eine grosse Tür wahr, die leicht offenstand und durch deren Spalt ein schwaches Licht einsickerte. Mit unsicheren Schritten ging Lena auf diese Lichtlinie zu und öffnete ganz leise die schwere, hölzerne Tür, die erstaunlich leicht und lautlos aufging. Vor ihr lag ein kleiner Raum mit runden Mauern. Vielleicht ein Turmzimmer? Vor dem Fenster, das in die Wand eingelassen war, stand ein einfacher Holzschreibtisch mit einem Stuhl. Auf diesem Stuhl sass eine Gestalt, mit dem Rücken zu ihr, den Kopf nach vorne gebeugt. Von dort kam das Schluchzen. Immer, wenn sie es wieder hörte, durchlief ein Zittern den gesamten Körper. Die Szenerie wurde vom Licht des weissen Vollmonds erleuchtet, der am tief schwarzen Nachthimmel vor dem Fenster stand und der alles in ein kühles, fahles Licht tauchte. Lena verspürte keine Angst. Im Gegenteil, sie empfand ein seltsames Mitleid mit dieser Gestalt, die dort verlassen und verzweifelt sass. Mit zögernden Schritten durchquerte sie den Raum und stand dann neben dem Schreibtisch. Die Gestalt hatte ihren Kopf in den Händen vergraben. Die wirren grauen Haare fielen ihr bis auf die Schultern und nach vorne in das Gesicht, so dass Lena nichts erkennen konnte.
„Hallo?“, sprach Lena die Gestalt an, wobei ihre Stimme mehr einem Flüstern glich.
Doch die Reaktion erfolgte unmittelbar. Die Gestalt richtete sich augenblicklich kerzengerade auf ihrem Holzstuhl auf und der Kopf wirbelte in ihre Richtung. Lena erschrak sich dermassen, dass sie nach hinten fiel und auf dem harten Boden sitzen blieb. Das hatte sie nicht erwartet. Doch es machte sie auch wütend.
„Was soll das? Ich tue Ihnen doch nichts!“, maulte Lena und versuchte wieder aufzustehen. „Und überhaupt, wer sind Sie und was tun Sie hier in unserer Wohnung?“
Doch schon als sie das sagte, war sie nicht mehr sicher, ob das überhaupt zutraf. Alles war so anders. Als sie wieder auf ihren Füssen stand, schauten sie sich direkt in die Augen. Doch was waren das für Augen? Grosse, rot geäderte Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und ein leichtes Glimmen in sich trugen. Aber es waren keine bösen Augen. Eine bodenlose Traurigkeit lag in diesem Blick, der Lena sogleich in ihren Bann zog. Es war das Gesicht eines uralten Mannes, mit eingefallenen Zügen und schmalen, farblosen Lippen, das in einen faltigen Hals überging. Die Kleidung des Mannes war sehr altmodisch. Ein bauschiges, weisses Hemd mit vielen Rüschen am Kragen und an den Ärmeln, darüber trug er eine kunstvoll gearbeitete und mit aufwändigen Stickereien verzierte Weste, weiter eine blaue Pluderhose, die nur bis über die Knie reichte und die dann in helle Seidenstrümpfe überging. Die grossen Füsse steckten in schwarzen Schuhen, die von einer silbernen Spange geschmückt wurden. Nun hob der Mann seine rechte Hand und wies mit dem knochigen Zeigefinger, an dem ein kleiner goldener Siegelring steckte, auf sie.
„Wer ich bin weiss ich wohl. Doch wer ihr seid, junge Dame, wüsst ich nur zu gern“, sprach er mit einer seltsam hohlklingenden Stimme.
„Ich heisse Lena“, gab sie ein wenig baff und mit leiser Stimme zur Antwort.
Normalerweise hätte sie auf die sofortige Beantwortung ihrer Frage beharrt, denn schliesslich hatte sie zuerst gefragt. Aber diese Situation war alles andere als normal.
„Und was tut ihr hier in meinen Gemächern, holde Lady Lena?“, fragte die Stimme nun etwas kraftvoller.
Lena erzählte in zwei, drei Sätzen, was sie erlebt hatte und der Mann vor ihr hörte ihr interessiert zu. Dann stand er plötzlich auf. Er war gross, wenn auch von sehr schmaler Statur. Er drehte sich vollends zu ihr hin und das Mondlicht schien seinen Körper zu durchstrahlen, sodass er ein wenig wie zu schweben schien. Doch dies konnte Lena nicht weiter überraschen, dazu war bereits viel zu viel geschehen.
„Wer sind Sie?“, fragte sie nochmals. Dieses Mal mit einer festen Stimme. Langsam fasste sie sich wieder.
„Nun denn, holde Lady Lena, so will ich Euch verraten, wer hier in so erbärmlicher Gestalt vor Euch steht“, sagte der Mann und warf sich dabei ein wenig in Postur, sodass seine Erscheinung einen Hauch von Eleganz bekam.
Er strich sich mit beiden Händen das lange graue Haar nach hinten. Nun war sein Gesicht gänzlich unbedeckt.
„Mein Name ist Sir Simon von Canterville und ich residiere auf diesem Schloss nunmehr seit fast 500 Jahren.“
„Was? Wie lange schon?“, nun war Lena vollends überrascht und trat einen Schritt nach vorn.
„Ihr habt es wohl verstanden, doch könnt Ihr es kaum glauben. Fürwahr, wie sollte ich Euch dies verübeln und glaubt mir, auch mir ist dies nicht angenehm.“
Sir Simon sprach diese Worte in einem nachdenklichen Tonfall und er drehte sich mit einem Seufzer leicht zur Seite, damit er sein Gesicht im Mondlicht baden konnte. Sein Blick ging zum Fenster hinaus und seine ganze Haltung brachte seine Verzweiflung und seinen Schmerz zum Ausdruck, so dass es Lena dauerte. Sie trat noch einen Schritt näher an die Gestalt heran und legte ihre Hand auf ihren rechten Unterarm. Der fühlte sich kühl an. Doch Lena liess ihre Hand dort. Sir Simon hatte seinen Kopf wieder zu ihr gedreht und schaute sie an.
„Was ist passiert?“, fragte Lena und dann noch, „Warum sind Sie so traurig und verzweifelt?“
„Wollt Ihr es wirklich wissen, Lady Lena? Die ganze Geschichte?“ Lena nickte. „Wohlan, schaden wird es mir nicht und ich sehne mich schon viele Jahrzehnte lang nach jemandem, mit dem ich sprechen kann.“
Sir Simon drehte sich wieder um, nahm ganz zart ihre Hand und legte sie mit ausgestreckten Fingern auf den Rücken seiner linken Hand.
„So folgt mir denn. Meine Geschichte ist lange und es bedarf ein wenig Zeit, bis ich sie Euch erzählt habe. Lasst uns dort Platz nehmen, wenn es Euch genehm ist.“
Feierlich durchschritten sie das Turmzimmer und setzten sich nebeneinander auf ein grosses, mit rotem Samt bezogenes Sofa, welches mit aufwändigen Schnitzereien verziert war und auf geschwungenen Holzfüssen stand. Dann fing er an zu erzählen. Wie er damals, es war im Jahr 1575, seine Frau umgebracht hatte und wie er diese Tat seither bereute. Aber auch, dass er seit dieser Zeit als unruhiger Geist, als Gespenst, durch die Gemäuer von Schloss Canterville wandern musste. Nacht für Nacht, all die Jahre musste er zurück in die grosse Bibliothek, wo er den Blutfleck erneuerte, der noch von seiner schrecklichen Tat zeugte. Dazu war er verdammt. Bei all diesen Erzählungen erschienen immer wieder neue Bilder auf der gegenüberliegenden Steinwand, die wie aus Mondlicht gemacht waren und die seinen Worten Leben und Plastizität verliehen. Dann begann er vom letzten Jahr zu sprechen, als der amerikanische Botschafter Hiram B. Otis das Schloss gekauft hatte und mit seiner Familie hier eingezogen war. Nun mischte sich ein bitterer Unterton in die Erzählung und Lena spürte, wie schwer es dem Gespenst fiel, seine Geschichte weiter zu erzählen. Sie legte ihm wieder ihre Hand auf den Unterarm und er schaute sie mit einem beinahe zärtlichen Ausdruck in den Augen an.
„Zollte man mir über all die Jahre den nötigen Respekt, so war dies bei der Familie Otis nicht mehr zu erwarten“, fing er wieder an, „denn die Kinder der Familie haben vor nichts Respekt und zeigen mir dies auf mannigfaltige Weise.“
Wieder entfuhr dem Gespenst ein leiser Seufzer. Doch es fuhr fort zu erzählen. Dass man ihn zwingen wollte seine Ketten zu ölen, damit sie in der Nacht keinen Lärm mehr machten, wenn er damit spukend durch die Gemächer zog. Dass man den Blutfleck in der Bibliothek regelmässig mit Pinkertons Qualitäts-Fleckenentferner wegwischte, so dass er mittlerweile in Not gekommen war, ihn überhaupt noch standesgemäss zu erneuern. Wo sollte er bloss all das Blut herbekommen, so dass er auf allerlei andere Farben ausweichen musste, was ihn in seinem Stolz zutiefst kränkte. Weiter erzählte er von seinen Versuchen, die Familie Otis, und allen voran die Zwillingsbuben, gründlich zu erschrecken. Doch alle seine Versuche schlugen fehl und er wurde gedemütigt, indem man ihn seinerseits fürchterlich erschreckte, bis auf die Knochen durchnässte oder gar stürzen liess. Alle seine schrecklichen Verkleidungen, die ansonsten immer von Erfolg gekrönt waren und die Menschen zu Tode erschreckten, versagten. Ob dies nun der „Rote Ruben oder der erwürgte Säugling“, der „Stumme Daniel oder das Skelett des Selbstmörders“ oder seine furchtbarste Erscheinungsform als „Rupert der Rücksichtslose oder der Graf ohne Kopf“ war, nie nahm man ihn ernst und immer endete es schlimm für das arme Gespenst, so dass es sich schliesslich ganz zurückzog und nur noch zu der täglichen Routine der Auffrischung des Blutflecks erschien. Tunlichst darum besorgt zu einem Zeitpunkt zu erscheinen, wo ganz bestimmt niemand zugegen war. Selbst das einzige, aus seiner Sicht, nette Mitglied der Familie Otis, die Tochter mit Namen Virginia, war wütend auf das Gespenst, da es sich in seiner Not bei ihren Malfarben bedient hatte, um den Blutfleck zu pflegen, der mittlerweile in seltsamen Farbtönen leuchtete. Auch Virginia war das Rot schon längst ausgegangen und sie schimpfte mit Sir Simon als sie ihn einmal zufällig antraf.
„Und dann, lieber Sir Simon, was passierte dann?“, fragte Lena, die von der Erzählung des Gespenstes ganz in den Bann gezogen wurde.
Sie vergass dabei völlig, in was für einer merkwürdigen Situation sie sich eigentlich befand. Sir Simon blickte auf das Fenster über dem Schreibtisch, seufzte wieder und sagte nur einen Satz: „Ich bin so müde.“
„Dann legen Sie sich doch schlafen, liebes Gespenst, nein, ich meine Sir Simon“, erwiderte Lena, froh darüber, dass es ein so leicht zu erfüllender Wunsch war. „Am besten legen Sie sich gleich hier nieder. Das Sofa ist breit genug und weich gepolstert. Dann hole ich Ihnen noch eine Decke. Sie können auch gerne meine benutzen.“
Das Gespenst schaute sie mit einem milden Lächeln an.
„Das geht leider nicht, holde Lady Lena.“
„Warum nicht? Natürlich geht das. Sie müssen es nur ausprobieren“, nun kam Lena richtig in Fahrt.
Doch das Gespenst gab ihr mit einem leisen Wink zu verstehen, dass sie nun besser wieder schweigen würde.
„Der Schlaf, von dem ich spreche, ist süss, unendlich lang und befreiend. Es ist der Schlaf des Todes, den ich mir mehr als alles andere auf dieser Welt wünsche.“
Dann stand er auf, fasste sie wieder ganz leicht an der Hand und sie gingen gemeinsam zurück zu dem Fenster, wo der Mond mittlerweile ganz hoch am Himmel stand. Mit dem Zeigefinger, an dem Lena wieder den sanften Glanz des goldenen Siegelringes erkannte, lenkte er wortlos ihren Blick und sie sah draussen auf einer Wiese einen schön gewachsenen Mandelbaum stehen. Seine Zweige waren voller Blätter und Blüten und der Ansatz seiner kräftigen Wurzeln liess ahnen, wie tief sie in die weiche Erde reckten. Rund um den Baum wuchs ein Kissen aus weichem Moos.
„Dort möchte ich schlafen, Lady Lena. Dies wäre mein Wunsch. Ich habe ein langes Leben gelebt, habe geliebt, gelitten und habe Not erfahren. Nicht alles habe ich verstanden. Aber das muss ich auch nicht. Mein Leben war reich an Erfahrungen und nun ist es Zeit für mich zu gehen.“
Als er dies sagte schauten seine grossen Augen ruhig und voller Sehnsucht auf diesen friedlichen Platz.
„Wie kann das gehen?“, fragte Lena und merkte, wie eine Träne ihre Wange nässte.
Sie spürte die grosse Not und die Hilflosigkeit des Gespenstes und fühlte das Mitleid, das sie erfüllte.
„Nur wenn eine reine Seele sich meiner erbarmt und für mich betet, wird dies geschehen. Doch die Menschen sind seit jeher ein selbstbezogenes Geschlecht. Vielleicht wird dies nie geschehen. Aber manchmal gibt es Ausnahmen und dann können Dinge geschehen, die sonst nie passieren würden. Man soll und darf sein Leben nutzen, gestalten und geniessen. Doch manchmal spürt man, dass man etwas tun muss, ohne dabei an sich zu denken, sondern bloss, um jemand anderem eine Freude zu schenken.“
Als Sir Simon diesen Satz gesprochen hatte, fing alles um sie herum an, sich zu bewegen. Immer schneller wirbelte alles im Kreis und Lena konnte sich beinahe nicht mehr auf den Beinen halten. Sie verlor den Halt der schmalen Hand des Gespenstes und ihr war, als würde sie davongetragen.
Als Lena ihre Augen aufschlug, lag sie in ihrem Bett und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages wanderten langsam über den Boden.
„Was war dies bloss für ein seltsamer Traum“, fragte sich Lena noch ganz schlaftrunken. „Es fühlte sich alles so wirklich an.“
Sie schlug ihre leichte Sommerdecke zurück und wollte gerade aufstehen, als sie etwas Hartes unter ihrem Kopfkissen spürte. Sie griff unter das Kissen. Als sie ihre Hand wieder hervorzog und öffnete, lag dort ein kleiner, goldener Siegelring auf ihrer Handfläche. Nun war Lena hellwach und die ganzen Eindrücke der vergangenen Nacht flogen ihr nochmals durch den Kopf. „Um jemand anderem eine Freude zu schenken“, das waren die letzten Worte, die sie von Sir Simon gehört hatte und genau das wollte sie nun tun. Sie sprang aus dem Bett, machte sich zurecht und ging in die Küche. Dort war ihre Mutter gerade daran, das Frühstück vorzubereiten, bevor sie zur Arbeit musste.
„Guten Morgen, Lena“, sagte sie überrascht, „du bist schon wach?“
„Guten Morgen, Mama. Ja, heute habe ich etwas Wichtiges vor“, sie packte dabei eines der Butterbrote, nahm einen grossen Schluck Milch und stürmte aus der Wohnung. „Tschüss, Mama, bis heute Abend“, klang es noch aus dem Treppenhaus und die Worte echoten von den Wänden zurück.
Sie wollte zu ihrer ehemaligen Nachbarin, Frau Lehmann, die nun seit sechs Monaten im Altersheim wohnte. Lena wollte sie besuchen, mit ihr reden, vielleicht einen Spaziergang im Park mit ihr machen. Ihr einfach einen Tag schenken, wo sie gemeinsam über die Vergangenheit und das Leben plaudern konnten, denn sie war während ihrer Kindheit oft bei Frau Lehmann gewesen, hatte mir ihr gespielt, durfte bei ihr zu Mittag essen, wenn Mama oder ihr Grossvater einmal nicht da sein konnten. Sie war beinahe wie eine Grossmutter für sie gewesen. Das hatte Lena nicht vergessen. Mit ihrem Fahrrad fuhr Lena bis zum Bahnhof und erwischte gerade noch den Regionalzug, der sie zu ihrem alten Wohnort auf dem Land brachte. Sie freute sich darauf, wieder einmal dort zu sein.
Aus diesem einen Besuch wurden mehrere und Lena lernte dabei auch die neuen Freundinnen von Frau Lehmann im Altersheim kennen. Eine muntere Schar alter Frauen, die gemeinsam lachten, Zeit miteinander verbrachten, Freude teilten aber auch Leid, wenn es soweit war und eine von ihnen gehen musste. Doch Lena wusste nun, dass der Tod oder dieser „Süsse Schlaf“, wie ihn Sir Simon genannt hatte, auch ein Sehnsuchtsort, ein Ort der Ruhe sein konnte und etwas war, das ebenfalls zum Leben gehört. Aber sie wusste nun auch wie wichtig es war, das Leben zu geniessen und zu feiern und diese Freude mit anderen zu teilen.
Der Garten oder wie der Riese das Teilen lernte
Als Lena nach einem langen Besuchsnachmittag bei Frau Lehmann wieder einmal auf dem Rückweg vom Altersheim an der hohen Mauer eines verwilderten Gartens vorbeiging, der zu einer alten, schon lange verlassenen Villa gehörte, bemerkte sie plötzlich einen Spalt. Gerade breit genug um durchschlüpfen zu können. Verwundert blieb sie stehen. Sie hatte diese Öffnung bisher noch nie bemerkt. Neugierig streckte sie ihren Kopf durch den Spalt. Was sie dann sah, verschlug ihr beinahe den Atem. Vor ihren Augen breitete sich der schönste Garten aus, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Voller Sonnenschein, blühender Bäume und vielfarbiger Blumen. Kleine Kinder spielten dort, kletterten auf die Bäume, waren vergnügt und jauchzten vor lauter Lebenslust. Lena drückte ihren Körper durch den engen Spalt in der Mauer. Sie wollte ganz in den Garten hinein, der ihr so wunderbar und gänzlich unbekannt vorkam. Doch plötzlich veränderte sich die Szenerie. Die Sonne war auf einmal weg, der Himmel war grau und es wurde empfindlich kalt. Sogar zu schneien hatte es angefangen. Der Besitzer des Gartens, ein Riese, war gerade von einem langen Besuch bei seinem Freund, dem Menschenfresser von Cornwall, zurückgekehrt und er duldete es nicht, dass man in seinem Garten herumtobte.
„Das ist mein Garten. Er gehört mir und ich will nicht, dass jemand anders hier drin ist!“, rief er ärgerlich und scheuchte alle Kinder aus dem Garten hinaus.
Augenblicklich verschwand die Blumenpracht, die Bäume liessen ihre Blätter und Blüten fallen, die Vögel flogen davon und die weiche, grüne Wiese verschwand unter einer dicken Schneedecke. Der Schnee und der Frost tobten sich ungestüm aus und luden noch den Nordwind dazu ein. Zu guter Letzt kam auch noch ihr Freund der Hagel und nichts in dem ehemaligen Garten liess mehr auf das Glück und die Fröhlichkeit schliessen, die durch seine Schönheit gestiftet worden war. Der Riese betrachtete mit Wehmut, was in seinem Garten geschah. Er wünschte sich den Frühling zurück und die Pracht der Blumen. Eines Tages schlüpften die Kinder durch ein kleines Loch in der Mauer, das der Hagel geschlagen hatte, zurück in den Garten. Unter jedem ihrer Schritte sprossen das Gras und die Blumen aufs Neue und als sie die Bäume berührten, bedeckten sich diese wieder mit grünen Blättern und herrliche Blüten schmückten jeden Baum, wie eine Braut. Es war eine Lust, dies anzuschauen. Lena stand wie verzaubert da und die Bilder und Szenen zogen rasch an ihr vorbei und zugleich waren es ganze Jahreszeiten, wenn nicht schon Jahre selber, die ihr ihre Geschichten erzählten. Der Riese wurde alt und als er wie in jedem Frühjahr die Kinder mit seinen grossen Händen sachte auf die Äste der Bäume hob und dadurch den Winter aus dem Garten zwang, wurde Lena plötzlich klar, was das ihr sagen wollte: „Teile das, was dir am liebsten ist mit anderen und es wird noch viel schöner werden“, murmelte sie gedankenverloren vor sich hin. Dann zwängte sie sich zurück durch den engen Spalt in der Mauer und stand unversehens wieder auf der Strasse, wo der Abendverkehr brauste.
Als sie später zuhause vor dem Spiegel stand sah sie, dass sich eine kleine, weisse Apfelblüte in ihrem Haar verfangen hatte. Vorsichtig löste sie sie heraus und legte die zarte Blüte zu dem Siegelring, den sie in eine alte, leicht verbeulte Blechbüchse gelegt hatte, die noch von ihrem Grossvater stammte. „Bewahre hier drin die Schätze des Lebens auf, meine kleine Lena“, hatte er ihr damals vielsagend gesagt. Doch Lena wusste zu der Zeit noch nicht, was sie damit anfangen sollte. Nun spürte sie, was dort hineingehörte.
Am nächsten Tag schrieb sie ihre besten Freunde von früher per WhatsApp an. Von jedem Einzelnen wusste sie ganz genau, was er oder sie sich am meisten von ihr wünschen würde. Marco wollte sich schon lange ihren Lieblingsfilm ausleihen. Daniela würde sich über eine Ausfahrt mit ihrem Mountainbike sehr freuen und Esther wünschte sich nichts mehr, als in Lenas schönstem Kleid, das ihre Mutter für sie geschneidert hatte, an den diesjährigen Klassenball zu gehen. Lena wollte ihnen ihre Wünsche erfüllen und sie freute sich bereits darauf ihre Gesichter zu sehen. Daraus sollte dann eine Tradition entstehen und noch Jahre später tauschten die Freunde – und es kamen immer wieder neue dazu – gegenseitig ihre liebsten Dinge untereinander aus und liessen dadurch Träume und Wünsche real werden.
Schau hin
Unterdessen waren bereits drei Wochen der Sommerferien vorübergezogen. Lena fühlte sich glücklich und die Tage flogen nur so dahin. Sie hatte gerade zusammen mit ihrer Mutter zu Mittag gegessen. In einem lauschigen Park, wo es während der Sommermonate eine Imbissbude mit ein paar Tischen und Stühlen gab. Sie genossen beide eine Bratwurst mit Brot, tranken dazu einen kalten Eistee und beide hatten das Gefühl, noch nie etwas Besseres gegessen oder getrunken zu haben. Lenas Mutter war aber auch irgendwie verwundert über ihre Tochter. Sie machte gerade eine Wandlung durch und vieles, von dem sie zwar vermutet hatte, dass es in ihrem Innern angelegt sei, kam plötzlich zum Vorschein und begann sich zu entfalten. Es war ein schönes Gefühl für sie und machte sie stolz.
Lena hatte sich gerade von ihrer Mutter verabschiedet und schlenderte durch den menschenleeren, kühlen Park. Vor ihr öffnete sich die Reihe der Bäume und gab den Blick frei auf eine Statue, die etwas abseits auf einem niedrigen Podest stand. Es war die Figur eines jungen Prinzen. Er war weder edel gekleidet, noch sonderlich ausstaffiert. Er stand einfach in seiner Schlichtheit dort und wirkte gerade deswegen sehr anziehend. Er war ihr bisher noch nie aufgefallen oder stand dieses Denkmal vielleicht noch gar nicht lange hier an diesem Platz? Da kam eine kleine Schwalbe angeflogen und setzte sich dem Prinzen auf die Schulter. Lena lauschte und tatsächlich, sie konnte verstehen, was die beiden miteinander sprachen. Sie legte sich ins weiche Gras und schloss ihre Augen. Die Schwalbe und der schmucklose Prinz sprachen heiter über die vergangenen Zeiten, die schon so viele Jahre zurücklagen. Lena sah die Statue vor sich wieder an, die man zu der damaligen Zeit „Der glückliche Prinz“ nannte. In der Tat war die Statue des Prinzen damals prächtig gearbeitet, trug einen mächtigen roten Rubin im Knauf ihres Schwerts, ihre blitzenden Augen waren zwei blaue Saphire und ihr Kleid war über und über mit Goldplättchen belegt. Er war wunderschön anzusehen. Doch der Prinz war nicht glücklich. Im Gegenteil, er war sehr traurig. Erst jetzt, wo er kein mitfühlendes Menschenherz mehr hatte und als leblose Statue dastand, erkannte er all das Leid, welches unter den Bewohnern der Stadt herrschte. Es wollte ihm beinahe das bleierne Herz brechen, dass er nun in seinem Innern trug. Auf seine Bitte hin half ihm die Schwalbe dabei, die Not der Menschen zu lindern. Sie brach den Rubin aus dem Schwertknauf und brachte ihn einer armen Näherin, deren Sohn sterbenskrank im Bett lag. Er brauchte dringend teure Medizin. Dabei fächelte sie dem Buben mit ihren Flügeln ein wenig kühle Luft zu und schon bald ging es ihm wieder besser. Ein anderes Mal trug sie eines der Augen des Prinzen, einen blauen Saphir, zu einem jungen Mann in grosser Not, der ein Theaterstück schreiben sollte, der aber schrecklich fror in seiner Kammer und nichts zu essen hatte. Danach konnte er sich an Speis und Trank laben, seinen Kamin neu entfachen und das Stück fertigschreiben. Das zweite Auge des Prinzen ging an ein kleines Mädchen, das all seine Waren, die es für seinen Vater hätte verkaufen sollen, in die Gosse hat fallen lassen. Alles war verdorben. Nun getraute sie sich nicht nach Hause zu gehen und stand mit blossen Füssen und ihrem leichten Röckchen im eisigen Wind. Die kleine Schwalbe liess dem Mädchen den Stein in die Hände fallen. Dieses freute sich sehr darüber und konnte wieder heimgehen ohne den Vater zu erzürnen. Auch alle Goldplättchen an seinem Gewand liess der steinerne Prinz durch die Schwalbe verschenken, bis er schliesslich ziemlich unansehnlich auf seinem Sockel stand und dem Bürgermeister und dem Stadtrat nicht mehr gefiel. Kurzum liessen sie ihn vom Marktplatz, wo er vor der Kirche den besten Platz hatte, in den Park etwas abseits der Stadt verlegen. Dort stand er heute noch. Äusserlich war er nicht mehr schön, doch innerlich war seine Schönheit unermesslich gewachsen und dem, der darauf achtete, fiel dies durch seine Ausstrahlung auf, die er sich bis zum heutigen Tag erhalten hatte. Denn er hatte erkannt, dass er helfen konnte, die Not der Menschen zu lindern und dass er dabei nichts verlor, sondern ein Mehrfaches davon zu ihm zurückkam.
Als Lena die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch wie die kleine Schwalbe davonflog und im blauen Himmel verschwand. In den letzten Wochen ihrer Schulferien brachte sie sich als freiwillige Helferin bei einer Suppenküche ein, wo sie jeweils an zwei Tagen zur Mittagszeit dabei half, Essen und Kleider an bedürftige Menschen auszugeben. Sie wusste vorher gar nicht, dass es eine solche Organisation in ihrer Stadt gab und wie gross das Bedürfnis nach dieser Art der Hilfe war. Lena erkannte, wie leicht man die Not der Mitmenschen übersehen konnte und wie still und unsichtbar diese Menschen in der Bevölkerung verschwanden. Ihnen beizustehen, sich mit ihnen auszutauschen, ihnen zuzuhören und das Gefühl zu geben, das sie wichtig sind, wurde zu einer sehr bereichernden Erfahrung, die Lena in diesen Tagen machte. Es waren schöne Begegnungen und es sollten nicht die Letzten Tage sein, die sie dort verbrachte. In praktisch allen folgenden Schulferien meldete sie sich zu einem freiwilligen Einsatz. Als ihr einmal ein Obdachloser einen kleinen, funkelnd blauen Stein in die Hand legte, den er selber gefunden hatte, legte sie diesen zu der Apfelblüte und dem Siegelring in die kleine Blechbüchse. Dorthin gehörte er.
Nenn mich D.
Einmal, als Lena gerade in der Suppenküche ihre Arbeit abgeschlossen hatte, wollte sie sich etwas Gutes gönnen: Ein Eis, in der besten Eisdiele der Stadt. Das war es, worauf sie heute Lust hatte. Als sie kurze Zeit später unschlüssig vor der grossen Karte sass – alle Sorten Eis waren einfach zu lecker und eine Auswahl zu treffen, hiess immer auch verzichten – fiel ihr ein hübscher junger Mann auf, der am nächsten Tischchen auf der Terrasse sass. Er hatte seinen Kopf auf die Hände gestützt und machte einen sehr unglücklichen, fast schon verzweifelten Eindruck auf sie. Zuerst achtete sie sich nicht weiter. Doch irgendwie strahlte dieser einsame Jüngling eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Ganz entgegen ihrer sonstigen Art, stand Lena auf und ging zum Nebentisch.
„Möchtest Du Gesellschaft?“
Der junge Mann schaute kurz auf, nickte und versank dann gleich wieder in seine Nachdenklichkeit. Lena hatte immer noch die Karte mit den Eissorten in der Hand.
„Für was hast du dich entschieden? Was ist dein Favorit?“
Wieder schaute er sie an, gab aber keine Antwort. Stattdessen seufzte er leise. Nun war Lenas Neugier geweckt. Wenn sie schon diesen ungewohnten Schritt gemacht hatte, wollte sie jetzt dranbleiben.
„Hey, was ist los“, insistierte Lena, „warum machst du so ein unglückliches Gesicht?“
Wieder nur ein Seufzer.
„Schau dich doch um“, Lena kam nun richtig in Fahrt, „was für ein wunderbarer Sommertag. Wir sitzen hier auf der Gartenterrasse der besten Eisdiele der ganzen Stadt und du bläst hier Trübsal?“
Doch es nützte nichts, der junge Mann brütete weiter und sein Kopf lag schwer in seinen Händen. ‚Das kann doch nicht wahr sein‘, dachte Lena und fasste ihn leicht bei der Schulter an. Er hob seinen Kopf wieder und schaute sie mit seinen tiefernsten Augen an.
„Was willst du von mir?“ Seine Stimme klang wunderbar melodisch, aber die Melodie seiner Sprache war schleppend, so als müsste er eine schwere Last mich sich herumtragen.
„Was macht dich so traurig?“ Lena hatte das Gefühl, sie müsste ihn in den Arm nehmen und ihn trösten. Doch das traute sie sich nun doch nicht. „Kannst du die Schönheit nicht erkennen, die dich umgibt?“ Sie wollte ihn aus seiner Grübelei herauslocken. Doch der junge Mann hatte keinen Blick für das, was um ihn herum an Schönem zu sehen war.
„Lass mich bloss mit Schönheit in Ruhe!“, brach es plötzlich aus ihm hervor.
Lena erschrak und zog sofort ihre Hand von seiner Schulter weg. Nun funkelten seine Augen gefährlich. Was war passiert? Doch im nächsten Augenblick hatte er sich bereits wieder im Griff.
„Entschuldige bitte“, sprach er und seine Stimme hatte nun einen helleren Klang als vorhin, „ich wollte dich nicht erschrecken“.
Nun war er es, der Lena leicht an der Schulter berührte. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, doch bevor sie überlegen konnte, was sie tun sollte, begann er wieder zu sprechen.
„Was siehst du, wenn du mich anschaust?“ Lena war erstaunt über diese Frage, doch sie antwortete prompt und ehrlich.
„Einen hübschen jungen Mann, der traurig an einem der schönsten Orte der Stadt sitzt.“ Überrascht über sich selber, fuhr sie fort: „Und was siehst du, wenn du mich anschaust?“
Der junge Mann musterte sie und musste dann schliesslich lächeln.
„Ein hübsches Mädchen, das ein wenig zu neugierig ist und wildfremde junge Männer anspricht.“
Lena schaute ihn verdutzt an, dann mussten sie beide lachen. Der Bann war gebrochen. Sie diskutierten miteinander und die Zeit verflog im Nu. Lena war erstaunt über sein Wissen und die Art und Weise, wie er mit ihr sprach. Es kam ihr vor, als hätte er schon so vieles erlebt. Doch das konnte angesichts seiner Jugendlichkeit nicht sein. Als sie ihn darauf ansprach, hielt er einen Moment lange inne. Er schien sich gut zu überlegen, was er erwidern sollte.
„Die Zeit ist relativ“, begann er dann, „und jedem von uns ist eine Lebensspanne gegeben.“ Er schaute ihr wieder direkt in die Augen und Lena schien es, als würde er tief in ihr Innerstes blicken. „Wir nutzen diese Zeit selten für die Dinge, die wirklich zählen. Augenblicke, die uns Begegnungen und Erlebnisse schenken, an die wir uns später mit Freude und Stolz erinnern. Viel zu oft hadern wir mit uns selbst. Wir empfinden uns zu wenig attraktiv, zu wenig interessant, ziellos oder unbedeutend.“ Sein Gesicht war ernst geworden und seine Stimme hatte einen melancholischen Ausdruck. “Viel zu lange verweilen wir an der Oberfläche und lassen uns davon blenden, was andere tun. Sich mit anderen zu vergleichen, ist der Beginn des Unglücklichseins. Wir alle sind einzigartig. Du auch, Lena.“
Wieder berührte er sie sanft an der Schulter. Doch diese Berührung fühlte sich wie ein leichter elektrischer Schlag für Lena an, der sie vollständig durchrieselte und sie kurz erschaudern liess. Sie hörte ihm gebannt zu und musste dabei daran denken, wie viel Zeit sie schon damit verbracht hatte, sich auf Instagram mit anderen jungen Menschen zu vergleichen. Ihr Auftreten, ihr aufregendes Leben, ihre Freunde, all das schien Lena unerreichbar und machte sie jedes Mal unzufrieden mit sich selbst.
Später auf ihrem Spaziergang durch den Park, wo sie im kühlen Schatten der alten Bäume liefen, bemerkte Lena plötzlich, dass sie noch gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte.
„Nenn mich einfach D.“, und er verwendete dabei die englische Sprechweise. Er lächelte sie wieder an.
Sie sprachen über viele Dinge und jedes Mal führte er Lena in eine andere Welt und lud sie ein, sie mit anderen Augen zu sehen.
„Vieles ist eine Frage der Betrachtungsweise“, sagte er zu ihr, „und es ist an dir, ab und zu deine Position zu verändern. Schau dir die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln an und du wirst feststellen, dass vieles nicht so ist, wie du es im ersten Augenblick gedacht hast.“
Wieder war Lena erstaunt, wie er mit ihr sprach. Doch sie fühlte sich wohl und genoss die Zeit, die sie miteinander verbrachten. Sie sprachen über das, was richtig oder falsch ist und wie man es herausfinden kann. Aber auch über den Einfluss, den Menschen auf einen haben.
„Es ist nicht immer leicht zu widerstehen, wenn dir jemand etwas verspricht, das du unbedingt haben möchtest.“ Lena verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte.
„Wie meinst du das, D.?“
Er blieb stehen.
„Manchmal meinst du in deinem Leben etwas ganz fest für dich zu wollen. Es ist dir wichtig und du bist bereit, vieles dafür zu opfern. Und plötzlich tritt dann jemand an dich heran, der dir verspricht, dass du genau das erreichen kannst.“ Nun blickte er sie wieder direkt an. „In einem solchen Augenblick musst du ganz genau hinschauen und verstehen, was es ist und mit wem du es zu tun hast.“
Lena hörte aufmerksam zu und wieder musste sie an Episoden in ihrem Leben denken, an denen sie sich etwas ganz fest wünschte und auch daran, wie rasch sich diese Wünsche verändern konnten. Als hätte er ihre Gedanken lesen können sprach er weiter:
„Du veränderst dich und damit verändern sich auch deine Wünsche.“
Lena fühlte sich ertappt. Aber es war nicht unangenehm und sie nickte bloss ganz leicht. Dann schlenderten sie weiter.
„Sag mir, D., hast du auch schon Dinge in deinem Leben gemacht, die du später bereut hast?“ Nun war es Lena, die das Gespräch weiterbrachte.
„Leider habe ich das“, seine Augen bekamen wieder diesen traurigen Ausdruck, „mehr als nur ein Mal und ich bereue es zutiefst.“
Wieder fühlte Lena wie sie ein Schaudern durchfuhr.
„Ich habe erst spät bemerkt. Viel zu spät…“ Seine Stimme war nun fast nur noch ein Flüstern. Sie gingen weiter. Als Lena zufällig auf ihre Uhr schaute, erschrak sie.
„Ich muss nach Hause“, entfuhr es ihr, „ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich heute etwas früher daheim bin und dass wir gemeinsam kochen.“
Doch eigentlich wollte sie noch nicht gehen. Die Zeit war viel zu rasch vergangen und sie hätte noch endlos mit D. weiterreden können.
„Gib mir deine Handynummer, okay?“
„Du bist schon wieder ganz schön forsch“, erwiderte D. und wieder umspielte ein Lächeln seine Lippen.
„Komm lass uns ein Selfie machen“, flugs stellte sich Lena an D.‘s Seite und drückte den Auslöser. „Ich schicke es dir dann später zu.“
Rasch kritzelte sie seine Handynummer auf die Rechnung aus der Eisdiele, die sie zufällig noch in ihrer Tasche hatte und rannte davon. Als sie bemerkte, dass sie sich nicht einmal von ihm verabschiedet hatte, blieb sie stehen und drehte sich nochmals um. Zumindest noch einmal zuwinken wollte sie ihm. Doch D. war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Lena wunderte sich. Wo konnte er bloss so rasch hingegangen sein? Doch dann machte sie kehrt und rannte weiter. Sie wollte ihre Mutter nicht warten lassen.
Später am Abend sass Lena wieder in ihrem Zimmer auf ihrem Bett. Sie war immer noch ganz durcheinander von ihrer Begegnung mit diesem faszinierenden jungen Mann. Sie wollte ihn unbedingt wiedersehen. Sie tippte die Handynummer in ihr Handy ein und wollte das Selfie verschicken. Als sie das Foto öffnete erschrak sie zutiefst. Auf dem Bild stand sie an der Seite von D. und lächelte. Doch sein Gesicht war fürchterlich entstellt. Es trug tiefe Narben, war zerfurcht und übersät von hässlichen Flecken. Nur die Augen hatten immer noch ihren tief traurigen und doch warmen Ausdruck. Er schien sie anzuschauen. In diesem Augenblick erschien eine Nachricht auf ihrem Handydisplay.
„Pass gut auf dich auf und lass dich nicht von Deinem Weg abbringen. Oftmals ist Schönheit nichts als blosse Fassade. Lass dich davon nicht täuschen. Schönheit ist das, was du als solche erkennst. Oftmals kannst du sie nur mit deinem Herzen sehen. Sie kann in vielen Dingen liegen. Entdecke sie und bewahre sie für dich auf, dein Dorian“.
Lena war völlig verwirrt und starrte auf ihr Handy. Dort verschwand zuerst das Foto und danach die Nachricht, die sie gerade erhalten hatte. Als sie versuchte eine WhatsApp Nachricht an die Handynummer von Dorian zu schreiben, war dies nicht möglich. Die Nummer existierte nicht.
In der Nacht lag Lena wach in ihrem Bett und dachte darüber nach, was heute passiert war. Irgendetwas an dieser Begegnung mit Dorian kam ihr bekannt vor und erinnerte sie an etwas. Doch was war dies? Plötzlich stand sie auf, öffnete vorsichtig ihre Zimmertür und ging zu dem grossen Büchergestell im Wohnzimmer. Mit der Lampe ihres Handys schritt sie eine Bücherreihe nach der anderen ab. Sie suchte etwas. „Da ist es“, sprach Lena ganz leise zu sich selbst und nahm ein schmales Buch heraus. Sie las den Titel: „Das Bildnis des Dorian Gray“. Eines der Lieblingsbücher von ihrem Grossvater. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihn gesehen hatte, als er konzentriert darin las.
„Dieses kleine Buch wird einmal auch für dich wichtig sein, meine kleine Lena. Doch es ist noch ein wenig zu früh für dich, um zu verstehen, was es dir sagen will.“
Sie war damals enttäuscht und bat Grossvater ihr daraus vorzulesen. Doch dieser lächelte sie nur an, nahm ein anderes Buch zur Hand und begann ihr daraus vorzulesen. Lena vergass ihn wieder darauf anzusprechen. Doch in diesem Augenblick stand ihr diese kleine Episode wieder ganz klar vor ihren Augen. Sie nahm das Buch, ging zurück in ihr Zimmer und begann zu lesen. Je mehr sie las desto klarer wurde ihr, was Dorian ihr sagen wollte. Man muss die Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen und sich nicht selber täuschen. Jeder Mensch ist das Resultat all der Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hat. Doch man hat die Freiheit, seine Entscheidungen selber zu treffen und es ist nicht schlimm Fehler zu machen, solange man bereit ist, daraus zu lernen und nicht wegschaut. Es ist wichtig zu erkennen, was tatsächlich zählt, was wertvoll und was richtig und falsch ist. Zu erkennen, wofür es sich lohnt, sich einzusetzen und dafür zu leben. Als Lena dann im letzten Abschnitt las, wie sich alle schlechten Taten von Dorian Gray, die er im Laufe der Jahre getan hatte, auf seinem vormals perfekten Porträtbild darstellten und sein Gesicht und seine Züge bis zur Unkenntlichkeit entstellten, verstand sie die Botschaft dieser Geschichte. Nachdenklich legte sie das kleine Buch zur Seite. Sie würde diesen faszinierenden jungen Mann nie mehr wiedersehen. Das wusste sie intuitiv. Doch was er ihr bei ihrer kurzen Begegnung mitgegeben hatte, war kostbar. Sie griff nach dem zerknüllten Zettel, der noch auf ihrer Bettdecke lag. Es war die Rechnung aus der Eisdiele mit der Handynummer drauf. Lena strich das Papier glatt und legte es anschliessend zu den anderen Dingen in die Blechbüchse von Grossvater. Draussen begann es schon wieder zu dämmern. Lena hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan, doch sie fühlte sich nicht müde. Im Gegenteil.
Nach dem Frühstück packte sie rasch ein paar Sachen zusammen. Sie wollte den Tag im Freibad verbringen und zwar sorglos und ungezwungen. Ihr war es früher immer ein wenig unangenehm gewesen, sich im Badeanzug unter all den Menschen zu bewegen. Sie verglich sich andauernd mit allen anderen und war immer sehr streng mit sich selbst, so dass sie nie zufrieden war. Immer fand sie etwas an sich, worüber sie sich aufregte oder sich sogar dafür schämte. Doch Lena wusste nun, dass Schönheit etwas sehr Relatives ist, etwas Vergängliches und rein Oberflächliches. Und etwas anderes war ihr auch klar geworden: Wer nur sich selber liebt, verpasst es die Augen für die Schönheit der Welt offen zu halten. An diesem wunderbaren Sommertag fühlte sich Lena so frei und glücklich wie schon lange nicht mehr.
Loslassen
Nachdem Lena einige Runden im grossen Schwimmbecken geschwommen war, legte sie sich auf ihr Badetuch und liess sich von der Sonne trocknen. Es war ein gutes Gefühl. Lena schloss die Augen und lauschte den typischen Geräuschen eines Sommertages im Freibad. Das Planschen, das fröhliche Geplapper der Kinder, von weit her tönte ein Radio leise herüber. Alles war so vertraut. Doch plötzlich kamen ihre Erinnerungen wieder. Erinnerungen aus dem letzten Sommer, wo sie zum ersten Mal richtig verliebt gewesen war. Es war ein Junge aus ihrer Klasse gewesen, von dem sie eigentlich nie gedacht hätte, dass er auch an ihr Interesse haben könnte. Umso mehr genoss sie das Gefühl von Schmetterlingen in ihrem Bauch. So viele Dinge erlebte sie damals zum ersten Mal: Den ersten Kuss, lange Spaziergänge Hand in Hand, Zärtlichkeit und Vertrautheit. Und plötzlich war alles vorbei. Der Wegzug aus ihrer gewohnten Umgebung, die Distanz zwischen ihnen zerriss das, was sie vorher an Nähe zueinander hatten. Sie liess sich nicht überbrücken. Lena hatte es probiert. Immer wieder. Doch irgendwann musste sie merken, dass sie sich fremd wurden und sich immer mehr voneinander entfernten. Ihre kurze Liebesgeschichte war vorüber und dies schmerzte Lena noch bis heute. Auch in diesem Moment spürte sie wieder einen kleinen Stich in ihrem Herzen und sie konnte es nicht verstehen. Das Sonnenlicht, welches zwischen den Blättern der Bäume um sie herum auf sie niederschien, zauberte Lichttupfer auf ihre geschlossenen Lider. Lena hörte noch das träge Summen einer Biene, dann schien es ihr als würde sie langsam anfangen zu schweben und schlief schliesslich ein.
Lena spürte einen kleinen Schubs an ihrer linken Seite. Schlaftrunken öffnete sie ihre Augen. Ein glänzendes, dunkelblaues Augenpaar schaute sie von ganz nahe an. Lena erschrak. Doch statt eines Schreis kamen nur ein paar Luftblasen aus ihrem Mund.
‚Wo bin ich‘, dachte sie und schaute genauer hin. ‚Ich bin unter Wasser!‘ Sie ruderte erschrocken mit ihren Armen. Doch da hörte sie plötzlich ganz deutlich eine Stimme in ihrem Kopf.
‚Du brauchst keine Angst zu haben.‘
Nun war Lena völlig baff. Woher kam diese Stimme? Dann sah sie undeutlich eine Gestalt vor sich. Lena erschrak wieder und ruderte ein wenig zurück, um zumindest ein wenig Distanz zu schaffen. Doch dann schaute sie nochmals genauer hin. Vor ihr im Wasser schwebte eine zierliche Meerjungfrau. Sie lächelte und ihr langes blondes Haar wogte um ihren Kopf, ganz leicht von der Strömung des Wassers bewegt.
‚Wo bin ich?‘
Die Meerjungfrau lachte ihr glockenhelles Lachen und antwortete ihr dann. Wieder konnte Lena die Stimme ganz deutlich in ihrem Kopf hören.
‚Du bist im Reich meines Vaters, dem Meerkönig und ich heisse dich hier herzlich willkommen.‘
Mit diesen Worten streckte sie ihre Hand aus und Lena ergriff sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Die Hand war kühl und geschmeidig und schon zog sie Lena federleicht mit sich in Richtung des Meeresgrundes, wo sie bereits von Weitem ein prächtiges Schloss mit Mauern aus roten und weissen Korallen und mächtigen Bernsteinfenstern sah. Das Dach war aus unzähligen Muscheln zusammengesetzt. Dass sie unter Wasser atmen konnte, fiel Lena gar nicht weiter auf, dazu war sie viel zu abgelenkt, mit dem was gerade passierte.
Als sie im grossen Schlossgarten angekommen waren, liess die Meerjungfrau die Hand von Lena wieder los.
‚Hier wohne ich zusammen mit meinen fünf Schwestern‘, und sie zeigte dabei mit einer ausschweifenden Handbewegung auf das eindrucksvolle Schloss und seine Umgebung.
Sie standen inmitten eines feuerroten Korallengartens. Alles war in ein schönes, warmes Licht getaucht und als Lena nach oben schaute, konnte sie hoch oben über sich den Glanz der Sonne sehen.
‚Warum bin ich hierhergekommen?‘
Die kleine Meerjungfrau lächelte wieder.
‚Du bist hier, weil ich dir etwas über die Liebe erzählen werde.‘
Im gleichen Augenblick, als sie das sagte, fanden sie sich beide an der Meeresoberfläche wieder, mitten in einem wütenden Sturm. Vor sich sahen sie ein grosses Schiff, dessen Segel zerrissen waren und das hilflos auf den sich hoch auftürmenden Wellen schlingerte. Mit dem Wind wurden ihnen einige Wortfetzen und Schreie zugeweht und sie sahen aus der Weite, wie die Mannschaft verzweifelt versuchte, die Kontrolle über ihr Schiff wieder zu erlangen. Doch es war zwecklos und schon bald darauf versank das Schiff in den Fluten. Es trieben nur noch vereinzelt ein paar Trümmer umher. Wie auf ein Zeichen schwamm die kleine Meerjungfrau zu dem Ort hinüber, wo vor ein paar Augenblicken noch das Heck des Schiffes zu sehen war. Sie tauchte ab und als sie wieder hochkam, hielt sie einen jungen Mann in ihren Armen. Behutsam schwamm sie mit ihm zu einem Strand, der nicht allzu weit entfernt war und legte ihn vorsichtig auf den Sand. Zärtlich nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn sanft auf die nasse Stirn. Dann versteckte sie sich hinter einem Felsen im Wasser. Lena schwamm rasch zu ihr. Gemeinsam beobachteten sie, wie zuerst ein Mädchen zu dem jungen Mann kam und danach noch einige Leute mehr. Sie kümmerten sich um ihn und nahmen ihn schliesslich mit. Es schien Lena, als hätten sie alle den Jüngling gekannt. Sie schaute fragend die kleine Meerjungfrau neben sich an. Diese begann zu erzählen.
„Es war ein Prinz“, fing sie an, „und ich hatte mich in ihn verliebt“. Jetzt, über dem Wasser, konnte Lena ihre Stimme hören.
„Was ist dann passiert?“ Lena wurde neugierig.
„Ich konnte ihn nicht mehr vergessen. Tag und Nacht dachte ich nur noch an ihn und sah sein Gesicht vor mir.“ Als die kleine Meerjungfrau das sagte, hatte sie einen wunderbaren Glanz in ihren Augen.
„Und dann,“ fragte nun Lena, die ganz ungeduldig geworden war, „was ist dann passiert?“ Die zierliche Gestalt neben ihr schien wie aus einem schönen Traum aufzuwachen. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als sie endlich weiterredete.
„Ich wurde vor lauter Sehnsucht zu ihm beinahe krank und wollte einen Weg finden, bei ihm zu sein.“
„Gab es denn einen Weg? Er lebte auf dem Land und du im Meer.“ Lena wollte unbedingt wissen, wie es weiterging.
„Ja, es gab einen. Doch es kostete mich meine Stimme“. Bei diesen Worten wandte sich die kleine Meerjungfrau kurz von Lena ab. Der Klang ihrer Stimme war ganz traurig geworden und nur stockend fuhr sie dann fort. „Ich ging zu der Meerhexe und sie braute mir einen Zaubertrank, der mir zwei Beine und zwei Füsse gab. Denn die Menschen mögen keinen Fischschwanz.“
Kurz tauchte ihr Fischschwanz auf und die Schuppen schillerten in den buntesten Farben, als das Sonnenlicht darauf fiel. Doch dann war er auch schon wieder weg.
„Hat die Meerhexe dir deine Stimme genommen?“
Lena fragte vorsichtig nach und legte ihre Hand der kleinen Meerjungfrau mitfühlend auf den Unterarm. Diese nickte nur und schaute auf das offene Meer hinaus. Dann begann sie wieder zu erzählen.
„Das war für mich in diesem Moment absolut in Ordnung. Auch als sie mir sagte, dass mir meine Füsse bei jedem Schritt so weh tun würden, als würde ich auf Messer gehen, war mir das egal. Hauptsache ich konnte wieder bei ihm sein.“ Sie sah Lena wieder direkt in die Augen. Sie spürte, wie stark die Liebe zu dem Prinzen war und dass sie alles getan hatte, um dieser Liebe eine Chance zu geben.
„Bist du dann zu ihm gegangen?“
„Ja, das bin ich. Und er nahm mich mit auf sein Schloss. Singen und sprechen konnte ich nicht mehr, aber dafür habe ich getanzt.“ Die kleine Meerjungfrau schloss die Augen, summte eine kleine, zauberhafte Melodie und wiegte sich im Klang der Musik. Ihre Bewegungen waren sanft und geschmeidig und sie hatte eine Anmut, wie sie Lena noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
„Was ist dann passiert? Bitte erzähl weiter.“ Lena platzte beinahe vor Neugier, wie diese Geschichte wohl weiterging.
„Der Prinz und der ganze Hof waren entzückt von mir. Er sagte mir, ich solle für immer bei ihm bleiben und ich könne bei ihm im Schloss wohnen. ‚Du bist mir die Liebste von allen,‘ hatte er zu mir gesagt und dass ich ihn an jemanden erinnere, der ihn einst aus den Fluten gerettet hätte. Doch er erkannte mich nicht und nie sagte er, dass er mich liebt.“
Bei diesen Worten machte sie ihre Augen zu und hatte ein sehr bekümmertes Gesicht. Dann fuhr sie fort zu erzählen. Wie der Prinz mit dem Schiff in ein anderes Land fuhr um dort auf Geheiss seiner Eltern, die Prinzessin zu treffen. Und wie er sie dann auch tatsächlich traf. Sie war eine wunderschöne Erscheinung und der Prinz meinte, dass sie gewiss seine Retterin gewesen sei. Die kleine Meerjungfrau schaute Lena wieder direkt in die Augen.
„Wie hätte ich ihm mitteilen sollen, dass ich es war? Ich war stumm…“
Lena lauschte weiter ihren Worten. Dass sie an der Hochzeit war und wie ihre Schwestern aus dem tiefen Meer sie besuchen kamen.
„Ich wusste, dass ich nicht mehr zurück in das Reich meines Vaters gehen konnte.“
Doch die Schwestern hätten ihr gesagt, dass wenn sie noch in der Hochzeitsnacht den jungen Prinzen erstechen würde, so könnte sie zurückkehren.
„So stand ich dann mit meinem Dolch in der Hand neben seinem Bett. Ich sah ihn dort liegen, zusammen mit seiner wunderschönen Frau und ich konnte und wollte es nicht tun. Es wäre nicht rechtens gewesen, diese Liebe zu zerstören. Ich durfte es nicht tun.“
Nun sah Lena ein Funkeln in den tiefernsten Augen ihres Gegenübers und sie sah die Entschlossenheit, mit welcher sie die kleine Meerjungfrau anschaute.
„Ich habe den Dolch ins Meer geschleudert und bin selber hinterhergesprungen. In dem Moment, wo ich das Wasser berührte, wurde ich zu Meerschaum.“
Lena schaute sie erschrocken an, denn der Tonfall, mit der diese Worte gesprochen wurden, hatte sich verändert. Es lag so viel Kraft darin.
„Und dann? Was ist dann passiert?“
Doch in diesem Moment erfasste sie eine mächtige Welle und spülte sie von dem Felsen weg. Hinaus auf das offene Meer, wo die hohen Wellen auf- und niedergingen. Verzweifelt versuchte sich Lena über Wasser zu halten. Sie ruderte mit ihren Armen und Beinen, immer darauf bedacht, nicht unterzugehen.
„Lena“, hörte sie eine Stimme rufen.
War das die kleine Meerjungfrau? War sie zurückgekommen?
„Lena!“ Nun war die Stimme noch viel deutlicher zu hören.
Sie schlug die Augen auf und blinzelte im hellen Licht. Über ihr sah sie Herrn Lutz, den Bademeister im Freibad.
„Na endlich bist du wach geworden. Ich dachte schon du möchtest hier übernachten.“ Herr Lutz lachte und half Lena aufzustehen.
„Wie spät ist es denn“, fragte Lena noch ganz benommen.
„Gleich 19 Uhr. Wir schliessen das Freibad.“
Lena erschrak, denn bald würde ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kommen und sich Sorgen machen, wenn sie nicht dort wäre. In Windeseile klaubte sie ihre Sachen zusammen, stopfte alles in ihre Tasche und rannte in Richtung Ausgang. Dem verdutzten Herrn Lutz rief sie noch ein „Dankeschön und bis bald!“ zu und schwang sich dann auf ihr Fahrrad.
Nach dem Abendessen mit ihrer Mutter ging Lena in ihr Zimmer. Sie war müde und durcheinander. Völlig in Gedanken versunken packte sie ihre feuchten Badesachen aus. Sie wollte alles noch zum Trocknen aufhängen. Vielleicht würde sie morgen nochmals ins Freibad gehen. Mit einem klackernden Geräusch fiel etwas aus ihrem Badetuch auf den Boden und verschwand unter ihrem Bett. Sie kniete sich nieder und schaute nach. Im Halbdunkel konnte sie die Umrisse von etwas erkennen. ‚Was das bloss sein könnte?‘ Vorsichtig ergriff sie den harten Gegenstand und brachte ihn ans Licht. In ihrer Hand lag ein Stück Koralle. Dunkelrot und zart verästelt. Lena betrachtete es staunend von allen Seiten. Plötzlich hörte sie wieder die vertraute Stimme in ihrem Kopf.
‚Meine liebe Lena, ich hoffe du hast verstanden, was ich dir zeigen wollte. Wahre Liebe erfordert oftmals Opfer und eine unerwiderte Liebe umso mehr. Doch Liebe darf nie besitzergreifend sein. Gerade wenn man liebt, sollte man bereit sein, loszulassen und dem geliebten Menschen die Freiheit zu geben. Die Liebe ist nicht von äusseren Umständen abhängig, sondern von der Bereitschaft, alles zu geben. Jeder Mensch verändert sich im Leben und manchmal trennen sich die Wege, die vorher eins waren. Dann ist es Zeit um loszulassen. Die Liebe zeigt uns, was für ein Mensch wir wirklich sind und lässt uns im besten Fall gemeinsam wachsen und reifen. Denk immer daran und verzage nicht. Auch wenn es manchmal weh tut.‘
Dann war die Stimme weg. Lena fühlte sich beschenkt und wollte diesen Worten nachstudieren. Doch zuerst legte sie das hübsche Korallenstück in die verbeulte Blechbüchse von Grossvater.
In dieser Nacht lag sie noch lange wach. Sie dachte über das nach, was sie heute gesehen und was sie von der kleinen Meerjungfrau gelernt hatte. Langsam begriff sie, worin der Wert des Liebens lag und auch, dass es manchmal besser ist loszulassen, wenn man zuvor alles gegeben hatte. Damit kann man sich das Schöne erhalten, das man gemeinsam erlebt hat und kann dafür dankbar sein. Als sie schliesslich doch noch einschlummerte hatte sie Frieden geschlossen mit dem Ende ihrer Sommerliebe vom letzten Jahr. Sie wünschte ihm und sich alles Glück auf Erden. „Danke, kleine Meerjungfrau“, flüsterte sie noch leise, dann schlief sie endgültig ein.
Die Begegnung
Die letzte Woche der Sommerferien war angebrochen. Lena hatte es irgendwie gar nicht bemerkt, so vieles war in diesen letzten Wochen passiert. Sie erschrak fast ein wenig als ihr plötzlich wieder die Schule und die Aufgabe in den Sinn kamen, die der Lehrer der Klasse aufgegeben hatte. Das hatte sie vollkommen vergessen und nun drängte die Zeit. Im grossen Kunstmuseum der Stadt, wurde gerade eine Sonderausstellung gezeigt, die der Kunst der Deutschen Romantiker gewidmet war. Sie sollten diese Ausstellung besuchen und eine kleine Abhandlung über das Gemälde verfassen, welches ihnen am meisten Eindruck gemacht hat. ‚So was Blödes!‘, ging es Lena durch den Kopf. Dazu hatte sie nun wirklich keine Lust, nach all den spannenden Dingen, die sie erlebt hatte. ‚Diese alten Schinken anschauen und erst noch darüber schreiben zu müssen.‘ Lena seufzte, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als dorthin zu gehen. Schliesslich wollte sie nicht bereits am ersten Tag des neuen Schuljahres einen Rüffel bekommen, weil sie die Aufgabe nicht gemacht hat. Rasch packte sie ihre Tasche, rannte das Treppenhaus hinunter und holte ihr Fahrrad aus dem Keller. Das Kunstmuseum war nicht weit entfernt.
Als Lena durch die mächtige Eingangstüre des Kunstmuseums eintrat umfing sie sogleich eine angenehme Kühle. Was für ein Gegensatz zu der Hitze, die draussen herrschte. An der Kasse zeigte sie ihren Schülerausweis, mit dem sie gratis das Museum besuchen konnte und ging dann zu den Ausstellungsräumen. Am Eingang war eine grosse Informationstafel aufgehängt. Unter dem Titel „Die Deutsche Romantik“ wurde diese Periode erklärt. Eine Zeit, wo das Schaurige, das Unterbewusste und Leidenschaftliche im Vordergrund standen. Eigentlich alles Dinge, die Lena interessierten: ‚Die Vertreter dieser Periode brachten das Gefühlvolle und Abenteuerliche zum Ausdruck. In der Malerei aber auch in der Literatur und Musik. Die Romantik betonte die Einzigartigkeit und Individualität des Einzelnen. Sie idealisierte die Natur und sah in ihr eine Quelle der Inspiration und Erneuerung.‘ Sie las die Zeilen zweimal durch. Es war ein wenig kompliziert geschrieben, aber sie hatte das Gefühl zu verstehen, um was es geht.
Lena trat in den ersten Ausstellungssaal und schlenderte langsam an den zum Teil sehr grossformatigen Gemälden vorbei. Sie war ganz alleine. Die hohen Räume hatten etwas Erhabenes und die Gemälde an der Wand beeindruckten sie. Irgendetwas weckte ihre Neugier. Auf vielen der Gemälde kehrten die Figuren dem Betrachter den Rücken zu und lenkten damit den Blick des Betrachters unwillkürlich auf die Landschaft und die Natur. Das faszinierte Lena und sie blieb vor dem einen oder anderen Gemälde länger stehen, trat näher hin, um es genauer betrachten zu können. ‚Wie viele Details hier zu entdecken sind‘, dachte sie. Schliesslich kam sie zu einem kleineren Raum in dem nur wenige Bilder aufgehängt waren. Der Raum war leicht abgedunkelt. Lena blieb vor einem der Gemälde stehen. „Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich. Die Szenerie war eigentlich sehr simpel. Es gab einen Strand, das Meer und den Himmel. Nur eine einzelne Gestalt stand dort und schaute auf das Meer hinaus. Das Gemälde drückte eine tiefe Wehmut und Sehnsucht aus. Lena konnte ihren Blick nicht von dem Bild abwenden. Sie versank förmlich in der Weite des Meeres, des Himmels und der Melancholie, die es ausstrahlte. Aber besonders die Figur des Mönchs hatte eine unbeschreibliche Anziehungskraft. Wie er ganz alleine dort am Strand stand. So verloren und verletzlich und gleichzeitig doch mit einer gewaltigen Präsenz. Lena schloss für einen Moment ihre Augen.
Das erste, was sie dann spürte, war ein frischer Wind, der sofort an ihren Kleidern zu zerren anfing. Dann hörte sie das Geräusch von heranrollenden Wellen. Lena öffnete ihre Augen wieder und sah sich ungläubig um. Sie selber stand nun am Strand. Vor sich sah sie die einsame Gestalt des Mönchs, der immer noch aufs Meer hinausschaute. Träumte sie oder war dies real? Lena kniff sich in den rechten Oberarm, aber es änderte nichts.
„Was ist passiert?“, fragte Lena leise.
Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen. Wieder spürte sie die Anziehungskraft dieser Gestalt, die unbeweglich vor ihr stand. Mit langsamen Schritten näherte sich Lena ihr, ohne sich zu überlegen, was sie da tat. Nun stand sie direkt hinter dem Mönch.
„Komm neben mich, Lena.“
Sie erschrak. Hatte er sie eben bei ihrem Namen genannt? Trotzdem machte sie einen Schritt nach vorne und stand nun neben der Gestalt. Sie traute sich nicht ihn anzuschauen, sondern schaute wie er auf das offene Meer hinaus. Auf die von Gischt gekrönten Wellen, die ruhig und gleichmässig, wie das Atmen eines grossen Tieres, heranrollten, auf den Horizont, den wolkenverhangen Himmel, vor dem sich die Linie des Meeres dunkel abzeichnete. Und sie wurde ganz ruhig dabei. Sie spürte ein grosses Gefühl von Geborgenheit tief in sich drin.
„Da bist du ja endlich, meine Kleine.“
Wieder war es diese Stimme, die für Lena so vertraut tönte. Als sie sich endlich getraute zu der Gestalt neben sich hochzuschauen, konnte sie es kaum glauben. Sie sah direkt in die sanften Augen ihres Grossvaters, der sie lächelnd anschaute. Sie öffnete ihren Mund, doch sie brachte kein Wort heraus. Sie spürte, wie er ihre Hand nahm. Dann fing er an mit ihr zu reden.
„Es ist lange her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben und trotzdem haben wir uns nie vergessen“, sagte er und nickte langsam, wie um das Gesagte zusätzlich zu unterstreichen. Lena nickte ganz unbewusst mit.
„Wo sind wir hier, Grossvater?“
„An einem Ort, wo alles beginnt und alles endet“, gab er ihr zur Antwort. „Hier kannst du ruhig werden, dich geborgen fühlen und loslassen.“
Grossvater machte eine weit ausschweifende Geste mit seinem linken Arm und führte dabei Lenas Blick zurück auf die glitzernde Fläche des Meeres.
„Du hast so viele Fragen“, fuhr er fort, „so viele Dinge, die dich verwirren und manchmal auch ängstigen.“
Sie schauten sich nun wieder an. Lena nickte wieder.
„Du hast in den letzten Wochen viel gelernt und einige Antworten für dich gefunden. Antworten, die für dich stimmig sind.“
„Hast du das alles für mich gemacht?“ Lena schaute ihren Grossvater erwartungsvoll an.
„Das ist nicht wichtig, meine Kleine. Manche Menschen finden schon in jungen Jahren, die Antworten auf die Fragen, die ihr Leben an sie stellt. Andere suchen ihr Leben lang danach und finden sie nicht. Und wieder andere fangen gar nicht erst an zu suchen. Wer von all diesen Menschen ist der Glücklichste, möchtest du mich nun vielleicht fragen?“
War dies nun eine Frage an sie? Doch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach Grossvater bereits weiter.
„Ich kann es dir nicht sagen, meine liebe Lena. Das Glück lässt sich nicht messen, nicht einfangen und auch nicht erzwingen.“
Auf dem Gesicht von Lena war wohl die Enttäuschung abzulesen. Grossvater musste wieder lächeln.
„Du trägst alles in dir, was es braucht um glücklich zu sein. Du musst es nur zulassen. Geh mit wachen Augen durch dein Leben, lass dich berühren. Weine, wo es deine Tränen braucht. Lache, wo deine Fröhlichkeit wichtig ist und andere beschenkt. Sei traurig, wo deine Trauer Trost bringt. Sei da, wenn jemand dich braucht. Liebe, wenn dein Herz dazu bereit ist und lass los, wenn es Zeit dafür ist. Aber sei immer du selbst, um nicht im Schatten der anderen zu stehen. Vergiss nie, dir selber die beste Freundin zu sein, dir zu vergeben und sicher zu sein, dass du perfekt bist, genau so wie du bist. Weil du du bist, machst du einen Unterschied im Leben vieler Menschen. Und vergiss nie neugierig zu bleiben. Jeder Tag, der dir eine Frage mehr schenkt, als dass du Antworten bekommen hast, ist ein guter Tag. Du musst das Leben nicht verstehen, um glücklich zu sein.“
Bei diesem letzten Satz breitete der Grossvater seine Arme aus. Die weiten Ärmel seiner Kutte flatterten im Wind, der nun wieder heftiger wurde. Er schaute Lena liebevoll an und nahm sie dann in seine Arme, wo sie vollständig in dem weichen Tuch verschwand. Sie fühlte sich geborgen und geliebt. Es wurde dunkel um sie herum.
Im nächsten Augenblick öffnete sie ihre Augen wieder. Sie stand immer noch vor dem Gemälde. Nichts hatte sich verändert. Doch, etwas war anders. Lena spürte eine Ruhe in sich, wie sie das bis anhin nicht gekannt hatte. Sie schaute nochmals hoch zu dem Bild und in diesem Moment hätte sie schwören können, dass sich die Gestalt des Mönchs kurz zu ihr umgedreht und ihr zugezwinkert hatte.
Als sie am Abend ihre Tasche wieder auspackte fiel plötzlich ein kleines, gefaltetes Papier heraus. Neugierig faltete sie es auf und las. Es war ein Gedicht von Rainer Maria Rilke:
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Lena fühlte sich tief berührt und glücklich. Sie dachte an Grossvater und an die vielen Begegnungen, die sie in den letzten Wochen hatte. Immer noch fühlte sie diese Ruhe in sich selbst. Da waren keine Selbstzweifel mehr und auch keine Grübeleien, die sie nicht weiterbrachten. Sie war bereit für das, was kommen würde. „Danke“, sprach sie fast wie zu sich selbst. Dann faltete sie das kleine Stück Papier wieder zusammen und legte es zu den anderen Dingen in die kleine Blechbüchse.
Die letzten Ferientage vergingen wie im Flug. Als Lena dann wieder in die Schule kam fühlte sich alles irgendwie anders an. Die Art und Weise, wie sie sich bewegte, wie sie sprach und wie sie auf Situationen reagierte, war verändert. Sie war nicht mehr die verunsicherte Aussenseiterin. Etwas war mit ihr geschehen und das merkten auch die anderen um sie herum. Schon bald ergaben sich neue Freundschaften. Lena war versöhnt mit sich und dem neuen Kapitel in ihrem Leben. Sie wusste, dass sie auf dem richtigen Weg ging, war neugierig auf das, was kommt und sie wusste auch, dass sie nicht alleine war.
Seither waren viele Jahre vergangen. Lena war inzwischen selber Mutter geworden. Ihre Tochter Claire war gerade acht Jahre alt geworden. Als sie einmal miteinander den grossen Schrank im Schlafzimmer ausräumten, fiel ihnen eine kleine, leicht verbeulte Blechbüchse in die Hände. Als Lena sie öffnete stiegen wieder die Bilder und Geschichten von damals in ihr hoch. „Ich werde heute Abend anfangen dir eine Geschichte zu erzählen“, sagte Lena zu ihrer Tochter. „Vielleicht ist es eine Geschichte fürs Leben“, fügte sie noch lächelnd hinzu und streichelte Claire sanft über das Haar.
Referenzübersicht:
Oscar Wilde (16. Oktober 1854 bis 30. November 1900)
- Das Gespenst von Canterville
https://www.projekt-gutenberg.org/wilde/cantervi/cantervi.html - Der selbstsüchtige Riese
https://www.projekt-gutenberg.org/wilde/maerchen/riese.html - Der glückliche Prinz
https://www.projekt-gutenberg.org/wilde/maerchen/prinz.html - Das Bildnis des Dorian Gray
Das Bildnis des Dorian Gray (projekt-gutenberg.org)
Hans Christian Andersen (2. April 1805 – 4. August 1875)
- Die kleine Seejungfrau
Hans Christian Andersen: Märchen (projekt-gutenberg.org)
Caspar David Friedrich (5. September 1774 – 7. Mai 1840)
- Der Mönch am Meer
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_M%C3%B6nch_am_Meer