Das Eis spritzt. Marionne schaut ärgerlich auf und möchte den Typen anschnauzen, der gerade mit einem abrupten Bremser, das Eis aufgekratzt und sie von oben bis unten mit feinem, kaltem Staub bedeckt hat, bevor er einfach weiterfuhr. Sie steht noch ein wenig unsicher auf ihren geliehenen Eislaufschuhen und hält sich mit der rechten Hand an den äusseren Seitenbanden fest. Wie viele Jahre ist es her, seit sie zum letzten Mal diese Kufen unter ihren Füssen hatte? Sie weiss es selbst nicht mehr. Es war eine ganz spontane Idee gewesen, heute Morgen, als sie aufgewacht war. An einem Sonntag, wo sowieso nichts läuft, kam es ihr vor, als ob dies eine tolle Abwechslung wäre. Nun ist sie sich nicht mehr so sicher. Ihr fehlt die Übung und damit macht es irgendwie keinen richtigen Spass.
Als sie nun aufschaut und bereit ist loszuwettern, bemerkt sie die rote Jacke mit den auffälligen, aufgenähten Stickern auf den Ärmeln an dem jungen Mann, der schon wieder mit weit ausholenden Skating Schritten und einer hohen Geschwindigkeit über die glatte Eisfläche flitzt. Marionne stutzt. Könnte es sein…? Ihr Ärger ist augenblicklich verflogen und auf ihrer Stirn erscheinen zwei senkrechte Falten. Direkt über der Nasenwurzel. Das ist typisch für sie. Immer wenn sie angestrengt und konzentriert über etwas nachdenkt, erscheinen diese Linien und sie wurde in ihrer Klasse schon oft damit aufgezogen. Sie dachte nach. Warum kam ihr diese Jacke so bekannt vor? Immer noch ein wenig unsicher auf den dünnen Kufen, richtet sie sich an der Aussenbande der Kunsteisbahn auf. Sie hat ihre schwarze Strickmütze tief ins Gesicht gezogen, da sie befürchtet, dass sie sonst kalte Ohren bekommt. Ihre Ohren sind ihre Schwachstelle. Somit besser vorsichtig sein. Auch ihr sonstiges Outfit ist nicht ganz so, wie sie sich normalerweise kleiden würde. Die viel zu grosse grellbunte Ski Jacke hat sie sich von ihrem nervigen Bruder geliehen, der sowieso nicht zuhause war. Da sie die passende Hose in dem Durcheinander im Zimmer ihres Bruders nicht finden konnte, nahm sie die von ihrer Mutter. In zartem rosa. Die klobigen geliehenen Schlittschuhe waren in einem nüchternen Blau gehalten. Keine sehr vorteilhafte Kombination, doch das war Marionne beim Weggehen ganz egal gewesen. Wenn sie sich nun aber in der spiegelnden Oberfläche der Plexiglassichtfenster mustert, kommt sie sich ein wenig fehl am Platz vor. «Ich sehe aus, wie ein Papagei», geht es ihr durch den Kopf.
Doch zurück zu dem jungen Mann, der bereits wieder in der Kurve des Eisfelds mit elegant übersetzten Schritten weiterfährt. Diese Jacke hat sie doch schon einmal gesehen. Bloss wo und an wem? Der Typ der nun mit zunehmender Geschwindigkeit in der zweiten Kurve wieder auf sie zukommt, hat einen guten Stil. Er fühlt sich offenbar wohl auf dem Eis. Nun fährt er auf ihrer Längsseite und kommt direkt auf sie zu. Ruhig und konzentriert, in leicht gebückter Haltung, den Blick auf die zerfurchte Oberfläche der Eisbahn geheftet. Das ist doch Marco, der gutaussehende Junge aus ihrer Klasse. Marionne durchzuckt es wie ein elektrischer Schlag und sie wendet sich unwillkürlich ab. «Er darf mich so nicht sehen», ist alles was sie in diesem Moment denkt. Marco zu treffen, ganz spontan und ohne vorher viel darüber nachdenken zu müssen, war immer ihr Traum gewesen. Dann hätte sie ein lockeres Gespräch mit ihm angefangen um herauszufinden, ob er eventuell auch Interesse an ihr hätte. Sie war schon seit geraumer Zeit in Marco verschossen. Er ist ihr ganz grosser Schwarm, mit seinen dunklen, verträumten Augen, den langen Wimpern und dem schwarzen, krausen Haar. Sein Lächeln hatte etwas bezauberndes und Marionne hätte sich ihm jedes Mal gerne in die Arme geworfen, wenn sie sich zufällig trafen. Doch leider war er bis anhin nie allein, wenn sie sich getroffen hatten. Und ihn in einer Gruppe anzusprechen, das getraute sie sich nicht. Doch ausgerechnet heute, wo sie in diesem unmöglichen Aufzug zittrig und unsicher auf der Eisfläche stand, ist er da. Allein. Was soll sie bloss machen? Im Kopf von Marionne arbeitet es fieberhaft. Immer noch von Marco abgewandt, lässt sie ihn an sich vorbeiflitzen. Jetzt nur nichts falsch machen. Zuerst einmal die Jacke wenden. Ihr Bruder war doch so stolz darauf, dass seine Ski Jacke auf zwei Arten zu tragen war. Die Innenseite ist schwarz. Das ist doch schon einmal ein Fortschritt, wenn die schrillen Farben nicht mehr zu sehen sind. Marionne versucht sich möglichst vorsichtig aus der Jacke zu schälen. Jetzt bloss nicht umfallen. Mit viele Mühe schafft sie es. Ein prüfender Blick bestätigt ihr: Der Papagei im Plexiglasspiegel ist schon ein bisschen weniger bunt. An den Hosen kann sich nichts ändern. Einfach die Jacke so weit wie möglich nach unten ziehen. Das hilft. An der schwarzen Strickmütze muss auch noch etwas geändert werden. Sie krempelt sie hoch. Die Ohren müssen raus, auch wenn es sie sogleich friert. Das muss sein. Marionne hält sich mühsam an den Aussenbanden fest. Aus dem Augenwinkel sieht sie gerade noch, dass Marco wieder mit eleganten Schwüngen auf sie zukommt. Rasch dreht sie ihren Kopf weg. Er darf sie nicht sehen. Das wäre sehr unvorteilhaft. Ein kratzendes Geräusch auf der Eisfläche und ein leiser Windhauch zeigen ihr, dass Marco bereits wieder an ihr vorbeigeflitzt ist. Marionne hat wieder ein paar Augenblicke Zeit, um mit ihrer Situation klarzukommen. Mit ihrem Outfit ist sie soweit ganz zufrieden. Mehr liegt nicht drin. Jetzt muss sie noch ein wenig an ihrem Auftritt arbeiten. Das ist schon schwieriger, da sie sich alles andere als sicher fühlt auf ihren Kufen. Sie schaut sich um. Nicht weit entfernt von ihr ist die Eingangstür auf das Eisfeld platziert. Sie steht offen und ein blauer hochfloriger Plastikteppich führt vom Aussenbereich auf die Eisfläche, damit die Leute nicht bereits beim Eintritt ausrutschen. «Das ist es», geht es Marionne durch den Kopf. Vorsichtig hangelt sie sich der Aussenbande entlang, immer darauf bedacht, ihr Gewicht möglichst auf den Armen und nicht auf den Beinen zu haben. Sie kommt sich vor wie ein Mehlsack, der langsam davongetragen wird. Als sie die Lücke erreicht macht sie einen entschlossenen Schritt auf den Teppich. Geschafft. Sie steht einigermassen sicher auf dem Plastikteppich, dreht sich um und positioniert sich lässig, mit einem Bein angewinkelt, an der Eingangstür zur Eisfläche. Nun noch ein Lächeln auf die Lippen zaubern und möglichst unbeteiligt auf das Eis schauen. Nun kann er kommen.
Da ist Marco bereits wieder in der ausholenden Kurve des Eisfelds. «Jetzt ganz ruhig bleiben». Marionne konzentriert sich, tunlichst darauf bedacht, dass ihre Stirnfalten nicht erscheinen. Das wäre verräterisch gewesen. Jetzt ist Marco auf der Längsseite und zieht mit seinen ausholenden Schwüngen elegant über das glitzernde Eis. Er hebt seinen Kopf und schaut direkt in ihre Richtung. Marionne’s Herz schlägt rascher. Was für ein tolles Timing. Genauso hatte sie es sich vorgestellt. Marco lächelt und steuert auf sie zu. Wie schön. Marionne streckt unbewusst ihren Rücken durch und lächelt ihrerseits erwartungsvoll in seine Richtung. Fast ist er schon bei ihr und deutet mit seinen halb ausgestreckten Armen eine Umarmung an. Marionne’s Herz schlägt bis in den Hals. Sie fühlt sich glücklich und kann es kaum glauben. Marco, für den sie schon so lange schwärmte und es niemandem gegenüber zugab. Nun ist es endlich soweit. Sie lässt die Bande los und macht einen Schritt in Richtung der spiegelnden Eisfläche, bereit Marco in ihren Armen aufzufangen. Da plötzlich wird sie leicht von der Seite angerempelt. Genug stark, dass sie ihr Gleichgewicht verliert und unsanft auf dem Hosenboden auf dem feuchten Plastikteppich landet. Als sie erschrocken und wütend hochschaut sieht sie gerade noch wie Monika, das beliebteste Mädchen aus ihrer Klasse, elegant auf das Eis hinaustritt, dort von Marco stürmisch in die Arme geschlossen wird, um dann lachend Hand in Hand mit ihm über die spiegelnde Fläche zu gleiten und bald schon ganz aus ihrem Blickwinkel zu verschwinden.