DaFabula

Mein Freund, der Dichter

Eigentlich hatte sich Lena sehr auf das Lager ihrer Gymnasialklasse im Wallis gefreut. Das letzte Mal, dass sie alle zusammen etwas erleben konnten. Doch nun das: sie sollten einen Aufsatz über Rainer Maria Rilke schreiben, der hier in Raron begraben lag. Gestern waren sie dort gewesen. Ausgerechnet über einen Dichter sollte sie schreiben. Lena war wütend. Als hätte sie nicht schon genug Probleme. Mit ihren Eltern hatte sie sich zerstritten und das mit ihrem Freund lief momentan auch nicht sehr gut. Er wollte eine Auszeit. Überhaupt empfand Lena ihr Leben gerade als sehr schwer und kompliziert. Da wollte sie nicht über verstaubte Gedichte nachdenken von einem Mann, der fast schon 100 Jahre tot war. Was sollte ihr das bringen? Lena fühlte sich elend.

 

Als sie in dieser Nacht einschlief, lag das kleine Buch mit den Gedichten von Rilke noch offen neben ihr auf dem Kopfkissen. Sie hatte versucht den einen oder anderen Text zu lesen. Sie musste doch einen Einstieg finden, um ihre Arbeit beginnen zu können. Plötzlich sah sie sich in ihrem Traum als kleines Mädchen wieder und eine ruhige Stimme sprach:

 

«Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen

so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.»

 

Als Lena am Morgen erwachte hatte sie das Gefühl, ihr Leben mit anderen Augen zu sehen. «Man kann nicht alles verstehen und muss manchmal den Dingen ihren Lauf lassen», dachte sie. Dann nahm sie das Büchlein in die Hand und suchte das Gedicht, um es nochmals ganz zu lesen.

 

Später sah sie Marco, ihren Freund aus der Klasse. Er spielte Fussball mit seinen Kameraden. Es tat ihr weh, ihn dort so ausgelassen zu sehen, da sie selber unter der Distanz litt, die er zwischen ihnen geschaffen hatte. Um sich abzulenken, griff Lena in ihre Tasche und holte den kleinen Gedichtband hervor. Sie legte ihren Zeigefinger irgendwo zufällig zwischen die Seiten und las den Satz, den sie antippte:

 

«Weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.»

 

Was sollte das nun bedeuten? Lena versuchte zu begreifen, was ihr diese Zeile sagen möchte. War es vielleicht notwendig, einem Menschen, den man liebt, Raum zu lassen, ihn nicht einzuengen? Als Lena noch ganz in Gedanken aufschaute, sah Marco gerade zu ihr herüber und winkte ihr kurz zu. Er sah glücklich aus und sie fühlte sich ihm plötzlich wieder ganz nah. «Die Liebe ist eine Balance zwischen Nähe und Distanz», ging es ihr durch den Kopf. Das wollte sie sich zu Herzen nehmen.

 

Am nächsten Tag ging die gesamte Klasse auf eine Wanderung. Eine fantastische Berglandschaft umgab sie. Dichte, grüne Wälder und schroffe Felswände wechselten sich ab und boten immer wieder neue herrliche Ausblicke. Lena ging ein wenig abseits der Klasse. Sie musste nachdenken. Über sich, das Leben und ihren Platz in dieser Welt. Es waren schwere Gedanken, die so gar nicht zu der Ausgelassenheit ihrer Klassenkameraden passen wollten. Schliesslich erreichten sie ihren Rastplatz, der an einem kleinen Bergsee lag. Die Umgebung spiegelte sich darin, doch Lena hatte keine Augen für die Schönheit, die sie umgab. Lustlos warf sie einen kleinen Stein in den See. Als dieser die ruhige Wasseroberfläche durchstiess, hörte Lena plötzlich eine flüsternde Stimme:

 

«Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.»

 

Lena schreckte auf. Die Worte blieben in ihrem Kopf und als sie die kleinen schaukelnden Wellen auf dem See betrachtete, die sich langsam bis zum Ufer ausbreiteten, verstand sie deren Sinn. «Mein Leben ist wie eine lange Reise mit ungewissem Ziel und ich habe die Chance vieles auszuprobieren und dabei mich selber zu finden.» Ihr wurde klar, dass das Leben nicht immer einfach sein würde, dass sie Herausforderungen zu bestehen hätte, an denen sie wachsen oder zerbrechen kann und dass Freude und Leid ihren festen Platz auf diesem Weg haben. Lena nickte leise, drehte sich dann um und gesellte sich wieder zu den anderen.

 

Am letzten Abend lag Lena noch lange wach. Sie hatte viel nachgedacht und fühlte, wie sich einige Dinge in ihrem Innern neu zusammenfügten. Doch auf ihre letzte Frage hatte sie noch immer keine Antwort gefunden: wohin geht die Reise des Lebens? Ihr Handy summte. Sie hatte eine WhatsApp Nachricht erhalten. «Unbekannter Absender», stand auf dem Display. Lena las die Nachricht:

 

«Habe Geduld

Forsche jetzt nicht nach den

Antworten,

die dir nicht gegeben werden können,

weil du sie nicht leben könntest.

Und es handelt sich darum:

alles zu leben.

Lebe jetzt die Fragen!

Vielleicht lebst du dann allmählich,

ohne es zu merken,

eines fernen Tages

in die Antwort hinein.»

 

Rainer Maria Rilke

 

Nun hatte er sie direkt angesprochen und sie fühlte sich zutiefst berührt, gehalten und getröstet.

 

Als ihr Klassenlehrer zwei Wochen später vor der ganzen Klasse den besten Aufsatz vorlas, war es der von Lena. Er trug den Titel: «Mein Freund, der Dichter».

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *