Peter
Die meisten Menschen hielten Peter für beinahe übermäßig höflich und zurückhaltend. Die Wahrheit war: Er konnte auf Zumutungen oder Beleidigungen nicht sofort reagieren. Die passende Antwort fiel ihm immer erst Stunden später ein, wenn es zu spät war. Also sagte er oftmals gar nichts.
Nun war es wieder einmal soweit. Das obligatorische Weihnachtsabendessen mit seiner Firma stand auf dem Programm. Für Peter war dies immer ein Abend, vor dem er sich bereits Wochen zum Voraus fürchtete. Er wusste aus Erfahrung, wie es für ihn herauskam. Sein Chef Wolfgang würde den Abend nutzen, um ihn vor der ganzen Belegschaft vorzuführen. Er machte sich geradezu einen Spass daraus ihn blosszustellen. Warum er dies tat? Peter wusste keine Antwort darauf. In all den Jahren, wo er nun bereits für diese kleine Speditionsfirma in der Disposition arbeitete, hatte er sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Peter arbeitete sehr zuverlässig. Niemals hätte er sich einen Fehler verziehen. Das sicher nicht. Es war seine Verantwortung, dass die Fahrer immer den besten Weg nehmen konnten und dass sich die Route optimal an die Lieferungen anpasste. Dafür wurde er auch von seinen Kollegen geschätzt. Sie konnten sich auf ihn verlassen. Wenn er sich einmal nicht ganz sicher war, so fuhr er in seiner Freizeit die betreffende Stelle selber mit seinem Auto ab. Es war für Peter immer ein Augenblick des persönlichen Triumphs, wenn er dann dem betreffenden Fahrer eine Route überreichen konnte, von der dieser verblüfft war. «Wie hast du diese Strecke bloss wieder herausgefunden», kamen dann oftmals die Kommentare am Abend, wenn die Fahrer von ihren Auslieferungen zurückkamen. «Das hätte ich nie gewusst. Als hättest du sie selber abgefahren.» Peter lächelte dann jeweils leise in sich hinein, sagte aber nie etwas. Das war sein kleiner Stolz, sein Geheimnis. Und wenn er dann die eine oder andere Pranke auf seinen Schultern spürte und ein kumpelhaft anerkennendes Schütteln erfuhr, so dass sein schmächtiger Körper durchgerüttelt wurde, liess er sich nichts davon anmerken. Das sollte niemand wissen. Doch seine akkurate Art zu arbeiten hatte auch seinen Preis: Er war langsam. Viel zu langsam, wie es ihn sein Chef immer wieder merken liess. Doch auch er wusste, dass er nicht auf das Wissen und die Erfahrung von Peter verzichten konnte. Das schützte ihn. Doch glücklich machte es ihn nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich unter Druck und gestresst, was ihn sein Magen spüren liess.
Die Kollegen von Peter plagten ihn aber nie und die eine oder andere Frau, die wie er im Büro arbeitete, redete sogar ein paar nette Worte mit ihm. Öfters passierte dies in der Kaffeepause, wenn Peter eigentlich nur ganz für sich in der Ecke seine Tasse Tee und sein mitgebrachtes Sandwich essen wollte. Das war ihm dann immer sehr unangenehm. Ein Gespräch zu führen, auch wenn es nur eine kleine Plauderei war, fiel ihm sowieso sehr schwer. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte und wurde dann jeweils knallrot im Gesicht. Erschwerend kam dann noch hinzu, dass er schon gar nicht essen und gleichzeitig reden konnte. Wenn er nicht anders konnte und etwas erwidern musste, versuchte er verzweifelt seinen Bissen herunterzuwürgen, der aber in der Hektik viel zu wenig zerkaut war und somit regelmässig zu einem Hustenanfall führte, was dann seine Panik noch verstärkte. Wenn er dann endlich soweit gewesen wäre und stotternd anfing zu sprechen, hatte sich in der Regel die Person bereits wieder von ihm abgewendet und stand bei jemand anders. So sass Peter dann mit hochrotem Kopf und offensichtlich sehr verlegen auf seinem Stuhl in der Ecke und schaute verstohlen im Pausenraum herum um sicher zu sein, dass ihn niemand in dieser elendiglichen Situation gesehen hatte. Natürlich hatten sie es bemerkt und es gab auch manchmal den einen oder anderen Spruch, aber sie waren nie boshaft und sie liessen Peter oftmals in Ruhe, was diesem noch so recht war.
Wolfgang aber konnte sehr unangenehm werden. Wenn es sich einmal ergab, dass er auch auf einen Kaffee in den Pausenraum kam, war dies für Peter immer ein Moment des Schreckens. Er wusste, dass Wolfgang ihn wieder blossstellen würde.
«Da ist ja Peter, unser Frauenheld», sprach Wolfgang ihn an und kam zum Peter herübergeschlendert, wo er sich massig vor ihm aufbaute. Dann legte er ihm gönnerhaft seine fleischige Hand auf die Schulter und schaute auf ihn herunter. «Hallo Wolfgang», stotterte Peter und seine Augen flackerten unruhig. «Hast du am Wochenende wieder viele Herzen gebrochen», Wolfgang tätschelte ihm kumpelhaft die Wange und zwinkerte ihm zu, «die können sich gegen deinen Charme einfach nicht wehren.» Wolfgang schaute erwartungsvoll in die Runde der Anwesenden, als wollte er sich dort vergewissern, dass ihm auch wirklich alle zuhörten. Alle standen nur da, machten ein betretenes Gesicht, schauten weg oder rührten mechanisch in ihren Tassen. Doch keiner wagte es, Wolfgang in die Schranken zu weisen. Nur zu gut kannten sie sein cholerisches Wesen und fürchteten sich davor, selber zum Opfer zu werden. Peter verzog sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln und wurde rot. Dann ging es so weiter. Wolfgang hörte nicht auf ihn zu piesacken und wenn er dann nach endlos langen Minuten endlich wieder aus dem Pausenraum verschwand, war die Stimmung gedrückt. Keiner schaute mehr zu Peter hinüber und alle wollten möglichst rasch wieder zurück an die Arbeit. Das war schon immer so. All die Jahre. Peter hatte sich scheinbar in die ihm zugewiesene Rolle des Losers geschickt. Wenn er dann wieder bei sich zu Hause war, kamen ihm die tollsten Ideen, wie er sich hätte wehren oder was er hätte erwidern können. Dann fühlte er sich stark genug, weil er alleine war. Aber er fühlte sich auch elend, hilflos und zornig im selben Moment.
Es herrschte eine ausgelassene Stimmung in dem grossen, weihnachtlich geschmückten Raum. Alle waren bester Laune, man scherzte, man lachte und genoss das gute Essen und noch mehr den reichlich ausgeschenkten Wein. Da stand Wolfgang auf, nahm sein Weinglas in die Hand und liess es mit einem leichten Anschlagen mit dem Messer zum Klingen bringen. Der Lärmpegel verschwand beinahe augenblicklich. Alle Blicke waren auf die grosse, massige Gestalt gerichtet. Wolfgangs Augen wanderten umher. Verweilten kurz bei der einen oder anderen Person. Er nickte zuweilen anerkennend oder deutete ein kurzes Zuprosten an. Dann begann er zu sprechen.
«Liebe Kolleginnen und Kollegen», hob er an und seine Stimme, die zuerst noch ein wenig brüchig war, gewann zunehmend an Kraft. Er hatte offensichtlich bereits einiges getrunken. Seine linke Hand suchte nach der Lehne seines Stuhls. Sein Körper schwankte ein wenig. Seine Rede handelte wie jedes Jahr davon, dass die Geschäfte einigermassen gut liefen und wie sehr er sich bemüht hätte, um möglichst viele Neukunden zu gewinnen. In diesem Augenblick erwartete er stets einen kleinen Zwischenapplaus, den er dann mit einem leichten Nicken und mit leuchtenden Augen entgegennahm. Danach schweifte er wie gewöhnlich ab, bedankte sich bei seinen Angestellten, die er wie immer «sein fast perfektes Dream Team» nannte, wobei er mit seinen Augen Peter fixierte, der sichtlich zusammengesunken in seinem Stuhl sass.
Dann öffnete sich die Saaltür und eine Gruppe von vier Kellnern balancierten eine riesige, mehrstöckige Torte herein und stellten sie vor Wolfgang hin. Die Torte war festlich geschmückt und ganz zuoberst stand ein dicker, sympathischer Weihnachtsmann aus Marzipan. Wolfgang nahm ein grosses Kuchenmesser vom Tisch und richtete es mit der Spitze auf Peter. «Komm, schneide das gute Stück für uns auf. Aber schlaf bitte nicht ein dabei.» Er fing an zu lachen. Einige stimmten halbherzig mit ein. Peter zuckte zusammen, stand auf und ging zögerlich nach vorne. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Dann ging alles sehr schnell. Peter hatte die Torte am unteren Rand gepackt und wuchtete sie mit einer erstaunlichen Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, hoch, um sie dann mit aller Wucht nach Wolfgang zu werfen. Dieser war so verdutzt, dass er vergass schützend sein Arme hochzunehmen. Das süsse Geschoss traf ihn mit voller Kraft und warf ihn nach hinten um. Peter kletterte behände auf den vor ihm stehenden Tisch und sprang mit beiden Füssen direkt auf den Bauch von Wolfang, der hilflos in den Kuchentrümmern am Boden lag. Dann nahm er die dicke Weihnachtsmannfigur und steckte diese Wolfgang in den vor Schmerz weit aufgerissenen Mund. Nun kniete Peter auf den Armen von seinem Chef und drückte diesem die Marzipanfigur immer weiter in den Rachen. Der unförmige Körper von Wolfgang wand sich hin und her und man konnte gurgelnde Geräusche hören. Seine Augen quollen aus den Höhlen und man konnte die Angst in ihnen sehen. Sein Gesicht fing an blau anzulaufen. Alle Anwesenden schauten wie gebannt auf das bizarre Geschehen. Doch keiner bewegte sich. Die Beine von Wolfgang zuckten wild. Er verlor einen Schuh. Dann war es plötzlich vorbei. Keine Bewegung mehr. Totenstille im Saal.
Peter stand langsam auf, nahm die weisse Stoffserviette von Wolfgangs Platz und putzte sich sorgfältig die Hände damit ab. Dann richtete er seine dicke Brille und ordnete seinen Anzug.
«Schöne Weihnachten», Peter schaute in die Reihen seiner Kollegen, «und ein glückliches neues Jahr.» Dann drehte er sich um und verliess ruhig den Saal.