«Na, wie war’s?»
Marco schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken und sah über sich einen weiss gekleideten Mann mit einem gepflegten weissen Bart, weissen Haaren und mit tief blauen, leuchtenden Augen, der ihn interessiert betrachtete.
«Wie war was?» gab Marco zur Antwort, einigermassen verwirrt von der Situation, denn er wusste beim besten Willen nicht, wo er war.
«Und darf man sich erkundigen», fragte der bärtige Mann weiter, «wen oder was – du siehst, ich bin ganz Frage, ich weiss nicht einmal, wie ich fragen soll – wen oder was du dir als Träger dieses – ich wiederhole ungern das Wort – dieses ‘Terrors’ denkst?»
‘Von was spricht dieser Mann?’ ging es Marco durch den Kopf. Aber das war mit Bedeutung gesagt, unzweifelhaft.
Der Mann kniete sich ganz nahe an Marco, bis sie sich beinahe berührten. Da küsste er ihn auf den Mund.
«Verstehst du nun, von was ich spreche?»
Gleich nach der Berührung der Lippen sah Marco eine rasche Folge von Bildern in seinem Innern aufsteigen. Er sah sich als Kind, sah seine Eltern, sah sich als Jugendlicher und dann wie er seine Frau kennenlernte, sah seine Ehe, seine Familie und seine Kinder. All das sah er und dann wusste er plötzlich, was geschehen war.
«Nicht möglich! Das ist nur ein Scherz!» rief Marco, wie er bei anderer Gelegenheit auch gerufen hatte. «So ist es also mit dem», sagte Marco, versuchte sich zu bewegen, was aber nicht gelang und sprach dann weiter, «mit dem Ende. Das ist nun der Tod. Mein Tod?» Marco legte die gegen das Ende seines Lebens sich selbst auferlegte Zurückgezogenheit ab und seine Stimmung schlug, wie das Wetter im April, blitzschnell um.
«Und was meinst du mit ‘diesem Terror’?» gab Marco etwas misstrauisch auf die vorgängige Frage als Gegenfrage zur Antwort.
«Na das, was ihr ‘Leben’ nennt» sprach der bärtige Mann und lächelte dazu. «Für manchen ist es der reine ‘Terror’. Ich möchte es gerne von dir wissen, wie du es einschätzt. Du kennst es aus eigener Erfahrung.»
Hinter Marcos Stirn begann es fiebrig zu arbeiten. Das, was er hörte, liess eindeutig nur einen Schluss zu.
«Ich bin tot», flüsterte er und seine Augen nahmen einen seltsam verblüfften Ausdruck an, «und du bist», Marco schluckte schwer, «Gott?»
«Nenn mich wie du willst», gab der Mann zur Antwort und lachte verschmitzt. «Einige nennen mich Gott oder Jehova, andere Shiwa, Buddha oder Allah. Manchmal nennt man mich auch ‘Die Natur’ oder ‘Das Universum’. Ganz wie du willst. Es macht mir nichts aus.» Er deutete eine weit ausladende Bewegung mit seinen Armen an, so als wolle er damit die ganze Welt und noch viel mehr umarmen. Marco war verwirrt. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern gestorben zu sein. Er sass doch eben noch am reich gedeckten und festlich geschmückten Esstisch, wo er zusammen mit seiner Familie seinen Geburtstag feierte.
«Wie ist das gekommen?»
«Erinnerst du dich an den Auflauf, mit den frischen Pilzen, die du gestern noch im Wald gesammelt hast?»
«Ja, klar. Die waren lecker.»
Der weisshaarige Mann schmunzelte wieder und Marco verstand.
«Nun aber zurück zu meiner Eingangsfrage: Wie war’s?»
Marco versuchte wieder sich zu bewegen und konnte sich schliesslich etwas umständlich mit beiden Ellenbogen vom Boden aufrichten.
«Du fragst mich also, wie mein Leben war?» Marco blickte den bärtigen Mann vor sich ein wenig skeptisch an.
«Ja, gerade von dir wäre dies interessant zu erfahren», gab dieser zurück und griff sich dabei mit der rechten Hand an sein Kinn. Nun sah er ganz und gar aufmerksam zu Marco herüber.
«Warum? Was macht mich in dieser Frage interessant?» entgegnete Marco und stand langsam und voller Anstrengung auf. Er wollte dem Mann auf Augenhöhe begegnen. «Weshalb fragst du gerade mich?»
«Weil wir uns nicht zum ersten Mal gegenüberstehen», gab der Mann zur Antwort.
«Nicht zum ersten Mal?» Marco machte ein ungläubiges Gesicht. «Das heisst, wir kennen uns bereits?»
«Ich dich schon», kam die Antwort ein wenig schnippisch zurück.
Marco dachte einen Augenblick lang nach und fragte dann weiter: «Heisst das, man kommt nach dem Tod wieder auf die Erde zurück?»
«Bei manchen ist das so», entgegnete sein Gegenüber lapidar.
«Trafen wir uns schon einige Male?» Jetzt sprach Marco ganz leise, fast wie zu sich selbst, «Und war ich immer glücklich nach meinem…», er schluckte kurz, «Tod?» «Beinahe, aber nie ganz. Du wolltest immer noch mehr wissen und hast unentwegt nach dem Sinn gesucht», gab der Mann zur Antwort. «Obschon deine Episode als Wurm war definitiv ein wenig unglücklich. Das gebe ich zu.» Der Mann machte ein nachdenkliches Gesicht. «Ja, diese Vögel sind manchmal unberechenbar.»
Marco zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte Zeit seines Lebens immer eine tiefe Abneigung gegen Krähen. Das würde vieles erklären.
«Man kommt also nicht wieder als Mensch zurück?»
«Manchmal schon. Aber die, die mehr wissen wollen, müssen auch einmal etwas anderes durchleben. Der Mensch ist ein beschränktes Wesen.»
Das leuchtete Marco irgendwie ein und er dachte dabei an die Fledermaus, die in der Nacht ohne Probleme auf die Jagd ging. Oder die Wale, die tief in den Meeren leben und sich mit ihrem Gesang über weite Strecken hinweg unterhalten. Es kamen ihm noch viele Tiere in den Sinn, die gewisse Dinge konnten, die er selber nicht beherrschte. Es gab so vieles, das er nicht konnte und das deshalb auch nicht vorstellbar war. Doch dann verscheuchte er diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die aktuelle Situation, die bereits skurril genug war.
«Und jetzt, wie geht es nun weiter?» Marco schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen und dieser erwiderte seinen Blick freundlich. Ihm war als würde man ihm direkt in die Seele blicken.
«Sag du es mir», gab dieser zur Antwort. «War es ein gutes Leben, eines, das sich gelohnt hat? Eines, das dir Antworten gegeben hat? Was denkst du?»
Marco dachte kurz nach. «Ja, es war, nein, es ist ein gutes Leben.» Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er wieder zurück möchte. Zurück in sein altes Leben und nicht wieder ein neues beginnen. «Kann ich zurück?» Marco stand nun ganz nahe vor dem weisshaarigen Mann. «Ich möchte zurück in mein altes Leben.» Nun war er sich ganz sicher.
«Im Moment ginge das noch», gab der Mann zur Antwort. «Aber es wäre das letzte Mal, dass du zurückkannst. Bist du dir ganz sicher. Hast du nun genug Erfahrungen gesammelt? Es war dir immer das Wichtigste.» Der weisshaarige Mann schaute ihn mit seinen klaren blauen Augen intensiv an. Marco kam es wieder so vor, als würde er in sein Innerstes blicken. «Sie ist bereit dazu», murmelte der Mann leise und er wurde ganz ernst dabei.
«Wer ist bereit?»
«Deine Seele ist bereit loszulassen und wieder eins zu werden mit dem ewigen Kreislauf.»
«Welchem Kreislauf?»
«Das ewige Kommen und Vergehen von allem, was dich umgibt. Du bist Sternenstaub. Hast du das vergessen?»
Marco dachte nach und schloss seine Augen. Plötzlich konnte er sich wieder erinnern. Er sah Episoden und Bilder aus seinen früheren Existenzen, sah wunderbare Bilder von Galaxien, Sternen, Planeten und unendlichen Weiten. Er sah sich durch den Himmel fliegen, unter sich die schneebedeckten Gipfel, er war eins mit dem Wasser der Flüsse, den Seen, den Meeren, er war Luft, Wolke, war Sturm. Er war Weite und Unendlichkeit. Intensive Gefühle durchströmten ihn, wie er sie bis anhin nicht gekannt hatte und er wurde ruhig dabei, streifte alle Unsicherheiten und alle Fragen ab, wie eine Haut, die ihm nun zu klein und zu eng geworden war. Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremden Orten, dieser – sei es auch – mühseligen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unterzieht, sie, kaum dass sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Er wollte das nicht mehr. Er wollte nichts mehr Neues leben oder sein. Er atmete tief ein und schliesslich öffnete er seine Augen wieder und sah den weisshaarigen Mann an, der ihn ruhig anblickte.
«Es ist wunderschön. Alles fliesst, nichts ist von Bestand. Man kann nichts halten, sondern ist Teil eines Ganzen.» Marco sprach diese Worte in tiefem Einklang mit sich selbst. «Ich habe verstanden. Ich bin bereit.»
«Das bist du», sprach der Mann lächelnd und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Die Berührung durchrieselte Marco wie ein sanfter Strom und er fühlte einen tiefen Frieden.
«Wir haben ihn», eine aufgeregte Stimme tönte aus dem Hintergrund. «Sein Puls ist wieder da und ist stabil.» Marco brachte seine schweren Lider kaum auf, blinzelte und sah anfänglich nur unscharfe Umrisse von Menschen in blauen Kitteln, mit Mundschutz, die um hin herumstanden und ihn sorgenvoll anblickten. Er schloss seine Augen wieder. Er war so müde und zugleich hellwach und voller Leben. Als er viele Stunden später wieder erwachte, lag er in einem Bett und seine Familie war bei ihm. Sie begrüssten ihn stürmisch, seine Kinder umarmten und herzten ihn. Schliesslich beugte sich seine Frau Lena zu ihm herunter und küsste ihn sanft auf die Stirn.
«Hallo, mein Schatz», sagte sie mit leiser Stimme. «Du hast uns so einen Schreck eingejagt. Bitte, tu das nie wieder. Ich liebe dich.»
Als sie alle wieder gegangen waren, lag er noch lange wach. Er konnte sich an nichts erinnern spürte aber einen tiefen Frieden in sich selbst. Etwas Ausserordentliches war passiert. Doch was war das gewesen? Er liess seinen Blick durch das grosse Fenster hinaus über die weiten, abgemähten Felder bis zum Horizont gleiten. Als er plötzlich von draussen den heiseren Schrei einer Krähe hörte, zuckte er kurz zusammen. Irgendwie mochte er diese Vögel nicht.