Der Augenblick, in dem wir erkennen, dass wir mehr hätten tun können – hätten tun müssen –, ist ein schwerer Augenblick. Jeder von uns hat in seinem Leben schon Momente erfahren, in denen es darum ging, sich zu entscheiden – und hat damit Weichen gestellt, für sich selbst und für andere. Wir sind immer das Produkt all unserer Entscheidungen. Und selbst, sich nicht zu entscheiden, ist eine Entscheidung, die Konsequenzen hat. Wir Menschen schaffen es scheinbar nicht, über die Katastrophe von Kriegen hinwegzukommen. Schon dort, wo wenige zusammenkommen, entstehen Konflikte, gibt es Neid und Eifersucht. Wie oft setzen wir Prioritäten falsch und erkennen nicht, was wirklich wichtig ist. Warum ist das so? Vielleicht werden wir zu wenig auf das vorbereitet, was das Leben eines Tages von uns verlangen wird. Vielleicht nehmen wir alles, was wir haben, als selbstverständlich – unfähig zu erkennen, wie rasch sich das Gewohnte in etwas völlig Unerwartetes verwandeln kann. Dann sind wir aufgefordert zu handeln und nicht bloss wegzuschauen. Wir sind nicht die Zaungäste und Gaffer unseres Lebens. Wir sind aufgerufen, einzustehen und Verantwortung zu übernehmen – für das, was wir tun, und auch für das, was wir nicht tun. Wir sind gefordert, zu beobachten und zu erkennen, wenn sich um uns etwas zum Unguten verändert. Etwas, das mit unseren Werten nicht mehr vereinbar ist.
Seit meiner Kindheit hat mich die Geschichte rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg interessiert. Ich konnte – und kann es bis heute nicht – fassen, was damals passiert ist. Ich habe erkannt, dass es sehr viele Sichtweisen auf diese tragischen Jahre der entfesselten Gewalt und Unmenschlichkeit gibt. Es existieren viele Bücher und Texte, die diese unterschiedlichen Seiten eines und desselben Ereignisses aufzeigen. Sie zu lesen, darüber nachzudenken und sich selbst zu fragen: „Wo wäre ich gestanden?“ – das ist wichtig. Sich zu fragen, ob man es rechtzeitig erkannt hätte, was auf uns zukommt, und ob man dann gegangen oder aktiv geworden wäre. Aber auch zu sehen, wie schwer sich eine solche Entscheidung anfühlt. Allein die Vorstellung davon gibt uns einen Eindruck, welche Energie und Bereitschaft es braucht, sich richtig zu entscheiden. Es gibt viele Rollen, die wir dabei einnehmen können und jede einzelne hat ihre ganz eigene Sicht- und Gefühlslage. Diese auszuloten und für einen Moment ganz ehrlich mit sich selbst zu sein, ist sehr aufschlussreich. Wie oft ducken wir uns weg vor Entscheidungen und überlassen sie anderen. Wie oft machen wir uns schuldig und verstecken uns hinter Bürokratie, Gesetzen und Vorgaben, Schwierigkeiten und Konventionen. Es ist so einfach zu sagen: „Ich bin nicht dafür zuständig“ und meist findet man mehr Menschen, die einen in dieser Aussage unterstützen, als solche, die sich ganz bewusst an einen anderen, viel exponierteren Punkt stellen. Vielfach sind es auch diese wenigen, die nicht viel sagen. Sie haben sich in ihrem Leben entschieden, genau dort zu stehen und sie können leicht übersehen oder verdrängt werden.
Es sind jedoch nicht nur aussergewöhnliche Ereignisse wie Kriege oder andere Katastrophen, die von uns Haltung fordern. Oft sind es auch die kleinen, ganz alltäglichen Dinge, die uns zur Reflexion und zu einer Haltung aufrufen. Und manchmal sind es gerade diese Momente, die uns zeigen, wer wir sind und was solche Dinge mit uns machen. Wo Verantwortung und Schuld beginnen und was richtig oder falsch ist, lässt sich nicht immer messen. Dafür gibt es keinen verbindlichen Massstab. Gesetze versuchen es und bemessen Schuld in Jahren der Haft oder in Auflagen. Das ist wichtig für die Menschen und für eine Gesellschaft. Doch es bleibt irgendwie abstrakt. Ich glaube, dass wir spüren, was uns schuldig macht, wenn wir nicht handeln.
Schindlers Liste ist einer dieser Filme, die genau dieses Dilemma aufzeigen. Er erzählt die wahre Geschichte von Oskar Schindler, einem deutschen Industriellen und NSDAP-Mitglied, der während des Zweiten Weltkriegs über 1.100 jüdische Menschen vor dem Holocaust rettete. Anfangs nutzt Schindler die Kriegswirtschaft, um mit einer Emaillefabrik in Krakau Profit zu machen. Dabei beschäftigt er jüdische Zwangsarbeiter, weil sie günstiger sind als polnische Arbeiter. Mit der Zeit wird er jedoch Zeuge der brutalen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung – insbesondere durch den sadistischen SS-Offizier Amon Göth. Ein Schlüsselmoment ist die Szene mit dem Mädchen im roten Mantel, das als einziges farbiges Element im Schwarz-Weiss-Film hervorsticht. Ein Symbol für Unschuld und das Grauen des Holocaust.
Schindler beginnt, seine Haltung zu ändern. Gemeinsam mit seinem jüdischen Buchhalter Itzhak Stern erstellt er eine Liste – die berühmte Schindler-Liste – mit Namen von Juden, die er als „unverzichtbare Arbeiter“ deklariert, um sie vor der Deportation in Konzentrationslager zu retten. Dafür gibt er sein gesamtes Vermögen aus. Und doch ist Oskar Schindler schmerzlich davon überzeugt, dass er noch mehr hätte tun können. Dass er noch mehr Menschen hätte retten können.
Der Film wird begleitet von einer wunderschönen und tief traurigen Musik. Vor einiger Zeit bin ich zufällig auf ein Video gestossen, in dem das Hauptthema der Filmmusik aufgeführt wird – mit einer Frau, deren eigenes Leben von vielen Herausforderungen geprägt ist: Davida Scheffers, eine niederländische Musikerin, die das Cor anglais (eine tiefere Variante der Oboe) spielt. Ihre Karriere wurde durch eine schmerzhafte neuromuskuläre Erkrankung unterbrochen, die sie zwang, das professionelle Musizieren aufzugeben. Trotz dieser schweren gesundheitlichen Einschränkungen gab sie ihren Traum nie ganz auf. Durch einen Wettbewerb erhielt sie schliesslich die Chance, mit dem Niederländischen Symphonieorchester aufzutreten – ein Moment, den sie selbst kaum noch für möglich gehalten hatte.
Sie taucht emotional so tief in die Musik von Schindlers Liste ein und wird dabei vollständig von ihren Gefühlen überwältigt. Dies zu sehen, berührt mich zutiefst. Denn es gibt nur wenige Momente im Leben, in denen man so ergriffen ist – und ganz eins mit sich, seinem Leben, dem, was man tut, und der Welt um sich herum.
Schau es dir an, wenn du das ebenfalls erleben möchtest: Filmmusik Schindler’s Liste
Ich glaube, es ist nicht die Menge dessen, was wir tun, um in der Welt ein Zeichen zu setzen, an dem sich andere orientieren können. Es kommt darauf an, dass wir erkennen, wann wir gefordert sind, uns zu entscheiden – und damit Haltung zeigen.
Wenn du für einige Minuten in die Atmosphäre des Films Schindlers Liste eintauchen möchtest, dann schau dir dieses Video an:





