Ich falle! Um mich herum ist Dunkelheit. Ich kann nichts erkennen, nur, dass ich falle scheint mir klar zu sein. Doch es ist kein haltloses Fallen. Es ist vielmehr ein Gleiten. Spüre ich Angst? Nein. Was dann? Eine innere Unruhe. Eine Spannung, aber auch eine Art von Neugier. Ich bin zugleich hellwach und todmüde.
Mein Fallen hat anscheinend ein Ende gefunden. Doch wo bin ich? Um mich herum herrscht absolute Dunkelheit und Stille. Ich versuche zu rufen. Doch meine Lippen bleiben stumm. Mein Schreien verhallt ungehört in meinem Innern. Warum bekomme ich meine Augen nicht auf? Oder sind sie bereits geöffnet und ich merke es bloss nicht, wegen der Dunkelheit? Plötzlich ein gleissender Blitz in meinem Kopf. Ich sehe die Scheinwerfer eines grossen Lastwagens durch die regennassen Scheiben meines Autos. Zwei blendende Kreise. Sie rasen direkt auf mich zu. Auf meiner Strassenseite. Ich höre jemand neben mir aufschreien. Es ist Lena, meine Frau. Mit aller Kraft reisse ich das Steuer nach rechts. Ich muss ausweichen!
Wieder ist alles dunkel um mich. Wo bin ich bloss und warum kann ich mich nicht bewegen? Bin ich wach oder träume ich?
Erneut Bilder in meinem Kopf. Ein gewaltiger Aufprall. Glas splittert und ich sehe wie ein Körper aus dem Auto geschleudert wird. In diesem Augenblick bläst sich der Airbag vor mir auf, drückt mich zurück in den Sitz, zwängt mich ein, lässt mich kaum atmen. Tief in mich verkeilt schiebt die Front des grossen Lastwagens mein Auto von der Strasse.
Bin ich noch im Auto? Es ist eng hier. Das Atmen fällt mir schwer.
Rauch. Der Wagen hat Feuer gefangen. Beissende, schwarze Schwaden dringen in den völlig zerstörten Innenraum des Autos ein und nehmen mir den Atem. Links über mir sehe ich die weit aufgerissenen Augen des Lastwagenfahrers in seiner Führerkabine. Jetzt kippt mein Auto über den Abhang und überschlägt sich mehrmals. Die Lenksäule bohrt sich mir in die Brust, das eingedrückte Dach zwingt mich unerbittlich nach unten. Ich spüre nichts.
Das muss ein Traum sein. Ich muss nur aufwachen, dann ist alles wieder gut.
Licht fingert durch die Nacht. Menschen stehen neben dem Autowrack. Ich spüre die Hitze des Feuers und kann mich nicht bewegen. Jemand spricht ruhig mit mir, will, dass ich ihn anschaue. Ich schaffe es nicht. Dann packen mich Hände. Was ist das für ein knatterndes Geräusch? Ein Helikopter?
Wo sind die Menschen? Warum ist niemand mehr da? Ich muss endlich aufwachen.
Ich spüre eine Maske auf meinem Gesicht. Das muss Sauerstoff sein. Mein Atmen geht leichter. Über mir an der Decke huschen helle Lichtkästen vorbei. Hektische Stimmen. Eine Türe schwingt auf. Menschen in blauer Kleidung und mit Masken vor Mund und Nase stehen bereit. Sie schauen mich an. Warten sie etwa auf mich?
‚Wach endlich auf!‘
Um mich herum stehen Menschen. Es ist ruhig. Sie scheinen niedergeschlagen. Ich sehe einen Bildschirm mit einer geraden Linie und ich höre einen langgezogenen hohen Ton.
Ich bin wach. Endlich. Es ist vorbei. Ich öffne meine Augen. Dunkelheit. Ich versuche mich zu bewegen, doch es ist eng um mich herum. Mein Herz rast. Ich atme viel zu schnell. Meine Lungen gieren nach Luft. Doch es ist nur wenig davon hier. Über mir höre ich ein dumpfes Murmeln. Ich verstehe kaum ein Wort. Doch halt, jetzt, ganz leise: „Asche zu Asche, Staub zu Staub.” Ich höre eine Frau schluchzen. „Lena, ich bin hier“, ich habe endlich meine Stimme wieder gefunden. „Lena, hörst du mich!“ Meine Fäuste schlagen nach oben und treffen auf weiche Kissenwattierung. Kein Laut. Ich schreie! Doch in diesem Augenblick vernehme ich von weit weg feierliche Blasmusik. Dann das Aufklatschen von Erde. Einmal, zweimal, dreimal. Warum zähle ich mit? „Lena“, ich schreie wieder so laut ich kann, „um Gottes Willen, hilf mir!“ Nichts. Die Musik verstummt. Kein Laut ist mehr zu hören. Ich schlage mit meinen Beinen gegen die Seitenwand. Ich drücke, stosse, schlage, doch die Enge um mich herum ringt mich nieder. Zwängt mich ein. Die Luft ist verbraucht, mein Atmen verkommt zu einem stossweisen Röcheln.
Ich falle. Ich sehe Bilder, Szenen aus meiner Kindheit, aus meinem Leben. Ich höre Stimmen, sehe Gesichter, die mir vertraut sind. Keine Angst mehr. Die Panik ist weg. Ich spüre, wie mein Fallen unendlich sanft aufgefangen wird. Und ich bin glücklich.