DaFabula

Vier Mal

‚Wie soll ich mich bloss entscheiden?‘ Lena liegt wach in ihrem Bett. Sie kann keinen Schlaf finden. Neben ihr liegt Marco. Sie schaut zu ihm rüber. Die Leuchtziffern auf ihrem Wecker zeigen 2.37 Uhr. Ganz leise steht sie auf und geht in das Nebenzimmer, wo Lisa in ihrem Kinderbett liegt. Sanft legt Lena ihre Hand dem Mädchen auf die Stirn.

 

„Du siehst so friedlich aus, meine kleine Prinzessin.“

 

Ein nachdenkliches Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie dem kleinen Mädchen liebevoll über das Haar streichelt. Lena ist unruhig als sie auf Zehenspitzen wieder zurück in ihr Bett geht und sich hinlegt. Bis vor Kurzem war ihr Leben gut gewesen. Sie hat einen Mann, der sie liebt und ihr dies auch immer wieder zeigt und sie war vor einem Jahr Mama geworden. Auch das kleine Haus, in dem sie leben, entspricht genau dem, was sich Lena immer gewünscht hat. Alles hat sich gefügt und war perfekt. Vielleicht zu perfekt? Vielleicht zu einfach? Lena dreht sich um und schaut wieder in Richtung von Marco.

 

Als sie nach der Geburt von Lisa wieder als Kundenberaterin in der Bank zu arbeiten anfing, war da unversehens dieser Mann aufgetaucht. Sie hatte gleich das Gefühl, dass sie ihn kannte. Von irgendwoher. Doch es kam ihr nicht mehr in den Sinn. Als sie ihn dann zufällig in der Kantine wieder sah, war es ihr plötzlich klar. Das war Alain, mit dem sie zusammen in der Abschlussklasse war. Doch das war bereits einige Jahre her. Aber er faszinierte sie sogleich wieder. Seine Art sich zu bewegen. Elegant und geschmeidig, fast wie ein Raubtier. Sein entwaffnendes Lächeln und die Art und Weise wie er mit Worten umgehen konnte. Das war damals schon so und hatte sich nicht geändert. Zuerst musste Lena innerlich über sich selber lachen. „Ich komme mir wieder vor wie ein Teenager“, dachte sie bei sich und mass dieser erneuten Begegnung keine weitere Bedeutung zu. Doch schon nach ein paar Tagen bemerkte sie, dass ihre Gedanken immer wieder um diesen Mann kreisten. Warum bloss? Er weckte in ihr eine alte, längst vergessene Sehnsucht wieder. Das Gefühl ungebunden zu sein, niemandem Rechenschaft zu schulden und einfach machen zu können, was sie gerne möchte. Dieses Gefühl hatte sie schon in ihrer wohlbehüteten Kindheit gespürt, konnte es aber damals noch nicht richtig einordnen. Erst später, in ihren turbulenten Jahren als Teenager, bekam dieses Gefühl mehr Bedeutung für sie und nahm schliesslich mit Alain Gestalt an. Er kam damals im laufenden Abschlussjahr in ihre Klasse. Seine Eltern zogen aus einer weit entfernten Stadt ganz in die Nähe von ihrem Haus. Sein Vater hatte eine neue Position angeboten bekommen, die er nun antreten wollte. Als Alain damals zur Türe hereinkam und in die Klasse schaute, begann er zu lächeln, seine Augen leuchteten und seine ganze Erscheinung strahlte etwas Selbstbewusstes und Gewinnendes aus, dem sich Lena nicht entziehen konnte. Er versprach alles, wonach sie sich sehnte. Doch sie wehrte sich innerlich heftig gegen dieses Gefühl, ignorierte Alain, wo immer sie nur konnte und gab ihm deutlich zu verstehen, dass er sie in Ruhe lassen sollte. Alles nur, um die vermeintliche Ordnung, die sie mittlerweile für ihr Leben akzeptiert hatte, nicht zu gefährden. Zu der damaligen Zeit war eigentlich auch schon klar, dass sie und Marco eines Tages ein Paar sein würden. Sie wollten einfach noch warten bis sie die Abschlussprüfungen abgeschlossen hatten und bereit für eine neue Phase in ihrem Leben waren. Ganz und gar vernünftig, wie alles im Leben von Lena.

 

Die Anziehungskraft von Alain hatte nichts von ihrer Wirkung verloren. Dies war damals der Fall und war heute noch genauso intensiv und direkt. Das irritierte Lena zutiefst. Lag es an Alain selbst, der eigentlich nicht die Art Mann war, auf die sie normalerweise reagierte oder weckte er einfach ein alte, tief in ihr schlummernde Sehnsucht nach einer anderen Art des Lebens? Sie hatte doch alles, was sie sich gewünscht hatte. Aber vielleicht waren das gar nicht ihre eigenen Wünsche, sondern das, was ihre Eltern ihr immer vorgesagt hatten. Vielleicht hatte sie einfach verinnerlicht, was man von ihr erwartete, hat es akzeptiert und gar nicht mehr hinterfragt. Alle diese Fragen trieben Lena in den letzten Wochen um. Sie konnte es nicht verstecken und auch Marco hatte sie darauf angesprochen.

 

„Du bist anders geworden in der letzten Zeit“, hatte er ihr gesagt, als sie wieder einmal, erschöpft von ihren Bemühungen, Lisa endlich in den Schlaf zu bringen, nebeneinander auf der Couch im Wohnzimmer sassen. Sie hat nicht darauf reagiert. Hat es stehen lassen und Marco war selber viel zu müde, um weiter darüber sprechen zu wollen. Er schob es einfach darauf, dass die ganzen Veränderungen im letzten Jahr und während der anstrengenden Zeit ihrer Schwangerschaft, ihre Kraft aufgebraucht haben und sie deshalb nicht in ihrer gewohnten Art auftreten konnte. Ihm ging es nicht viel besser und somit liess er es darauf beruhen, nahm aber weiter die kleinen Veränderungen im Verhalten von Lena wahr.

 

Nachdem sie wieder wusste, wer dieser Mann war, versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen. Im Geschäft nahm sie ihre Kaffeetasse nun immer an ihren Arbeitsplatz, um Alain nicht plötzlich im Pausenraum gegenüberzustehen. Auch zum Mittagessen ging sie nun öfters ganz alleine in einen kleinen Park, der nicht weit weg von der Bank gelegen war. Sie wollte nicht noch mehr verwirrt werden, fragte sich aber insgeheim doch, ob er sie ebenfalls erkannt hatte. Dann, vor zwei Monaten, hatte er sie am Ausgang der Bank abgepasst. Es sollte wie zufällig erscheinen. Er sass auf der niedrigen Mauer, welche die Reihe der Firmenparkplätze zu der Strasse hin abgrenzte und schaute fahrig in eine Zeitschrift. Doch sein Blick wanderte ständig wieder zu der Tür und als Lena schliesslich heraustrat, klappte er die Zeitschrift rasch zusammen und ging entschlossen auf sie zu.

 

„Bist Du nicht Lena“, fragte er, „die aus der Abschlussklasse?“

 

Er schaute ihr dabei direkt in die Augen und Lena konnte gar nicht anders als zu nicken. Er hatte sich also auch erinnert und sie erkannt.

 

Danach trafen sie sich öfters, assen auch gemeinsam zu Mittag. Als Alain ihr dann eröffnete, dass er sich damals in sie verliebt hatte, ihr aber keine Avancen machen wollte, da sie sich ihm gegenüber so abweisend verhalten hatte und er auch von Marco wusste, war dies für Lena wie ein Schlag ins Gesicht. Wie hatte sie dies nur übersehen können und warum traf sie ihn an diesem Punkt in ihrem Leben wieder, wo sowieso alles schon sehr kompliziert war? Sofort beendete Lena den Kontakt mit Alain und wollte ihn nicht mehr treffen. Sie wollte und durfte nicht zulassen, dass ihr Leben durcheinandergewirbelt wird. Nicht jetzt. Doch weshalb dann diese Unruhe?

 

Und dann das: vor zwei Tagen hat er ihr eine WhatsApp Nachricht geschrieben. Nur ein paar Sätze: ‚Lena, ich liebe Dich immer noch. Ich gehe weg. Komm mit mir. Am Mittwochmorgen um 4 Uhr warte ich vor Deinem Haus auf Dich. Bitte komm, Alain.‘

 

3.28 Uhr. Die Nacht hat noch keine Geräusche.

 

Vorsichtig legt Lena einen Briefumschlag auf das Nachttischchen von Marco, der immer noch tief und ruhig schläft. Sie hat ihm in ein paar Zeilen zu erklären versucht, was sie selber noch nicht richtig verstehen kann. Sie wird es ihm später erklären können, wenn sie selber begreift, was gerade geschieht. Doch eines weiss sie ganz genau: wenn sie diesen Schritt jetzt nicht tut, so würde sie es ihr Leben lang bereuen. Zu lange schon hatte sie diesen Teil in sich unterdrückt, der nach Freiheit strebte und der noch einer ganz anderen Lena Platz geben möchte. Einer Lena, die schon immer da war, die aber nicht gesehen werden durfte. Doch sie wusste auch, dass wenn sie diesem Drang nachgibt, würde es kein Zurück mehr geben. Sie küsst Marco zärtlich und geht leise in das Schlafzimmer von Lisa. Sie greift sich an den Hals und öffnet den Verschluss eines fein gearbeiteten Goldkettchens, an dem ein kleiner, gefasster Granatedelstein hängt. Lena hatte es von ihrer Grossmutter geschenkt bekommen.

 

„Es soll Dir Glück bringen und Dich beschützen, meine Kleine.“

 

Dies waren damals die Worte, die ihre Grossmutter zu ihr gesagt hatte. Mit denselben Worten gibt sie es nun an Lisa weiter und legt es neben ihr Kopfkissen. Sie küsst Lisa sanft auf die Stirn bis sie sich zur Seite dreht, sich streckt und weiterschläft. Lena lächelt still und gedankenversunken. ‚Papa wird es Dir erklären und Du wirst ein gutes Leben haben, kleine Lisa‘, denkt Lena mit einem Gefühl aus Traurigkeit und Zuversicht. Dann geht sie lautlos aus dem Zimmer.

 

Auf dem Flur steht eine Sporttasche mit den wichtigsten Utensilien, die Lena rasch gepackt hat. Sie nimmt die Tasche, dreht den Schlüssel vorsichtig im Türschloss und steht einen Moment später bereits in der Einfahrt zu ihrem Haus. Die Luft ist angenehm kühl. Sie schaut zurück zum Haus. Dann dreht sie sich um und geht. Als sie zur Gartentüre hinaus auf die Strasse tritt, sieht sie von Weitem bereits Alain in seinem Auto sitzen. Ihre Blicke treffen sich. Alles ist ruhig. Da plötzlich schlägt es von dem nahegelegenen Kirchturm vier Mal.

 

Hinojos, 22.8.2023

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *