„Hey, alter Mann“ hörte er hinter sich eine Stimme. Irritiert drehte er sich um und wollte herausfinden, an wen diese Ansage gerichtet war. Hinter ihm standen breitbeinig einige Jugendliche, die ihn angrinsten. Sie hatten offensichtlich bereits einige Biere getrunken und hielten je eine Flasche ‚Corona‘ in den Händen. Ihr Anführer stand direkt hinter ihm und blickte ihn herausfordernd an.
Manuel und seine Frau Claire sassen in ihrem Lieblingsrestaurant und feierten ihren Hochzeitstag. Er hatte sie heute damit überrascht und es war für sie beide ein besonderer Ort, denn hier hatte er ihr vor vielen Jahren seinen Heiratsantrag gemacht. Und sie hatte ja gesagt. Seither hatten sie viel gemeinsam erlebt und sie waren glücklich miteinander. Sie ergänzten sich ideal. Dort, wo Ruhe und Gelassenheit angesagt war, konnte er seine Stärken einbringen. Wenn es aber Durchsetzungsfähigkeit und Zielstrebigkeit bedurfte, so kam sie ins Spiel und konnte viel erreichen. Gemeinsam machte sie dies zu einem sehr guten Team und sie gingen ihren Weg durch ein erfülltes Leben. Leider hatte sie im letzten Jahr einen kleinen Hirnschlag erlitten, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Von einem Augenblick auf den anderen war nichts mehr so, wie es vorher war. Es geschah ganz plötzlich. Claire war gerade noch in ihr Buch vertieft gewesen, als sie dieses auf ihre Knie sinken liess und mit glasigem Blick in die Weite schaute, ohne dabei etwas zu fixieren. Manuel kam in diesem Augenblick mit zwei Tassen Tee in das Wohnzimmer und stellte eine davon neben seiner Frau auf den kleinen Beistelltisch. Er küsste sie auf die Stirn und bemerkte dabei sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Manuel sprach Claire an, doch sie gab ihm keine Antwort. Sie reagierte auf gar nichts und er wusste intuitiv, dass er nun handeln musste. Er rannte zum Telefon und alarmierte die Notrufzentrale. Danach ging alles sehr schnell. Der Krankenwagen kam angerast und die beiden Sanitäter rannten durch die bereits geöffnete Haustüre ins Wohnzimmer, wohin sie Manuel geistesgegenwärtig lotste. Überhaupt blieb er in dieser Situation sehr ruhig und überlegt, im Wissen darum, dass, wenn er nun hektisch und panisch werden würde, er ihr nicht helfen könnte. Als er dann später in der Nacht im Krankenhaus an ihrem Bett sass und ihre zarte Hand in der seinen hielt, gingen ihm all die gemeinsamen Jahre durch den Kopf. Sie hatten vieles erlebt, Dinge auf die Beine gestellt, wo andere gezweifelt hatten, dass es ihnen gelingen würde und sie hatten vor allem eines nie vergessen: Sich zu lieben und als Partner im Leben zu respektieren. Natürlich gab es auch bei ihnen Momente, wo es schwierig wurde, wo sie sich aneinander rieben und wo es gehörig krachte. Doch sie schafften es immer wieder, sich zu finden und einander zu verzeihen. Sie gingen aufeinander zu und versuchten, den anderen zu verstehen, Dinge nicht persönlich zu nehmen und einander das zuzugestehen, was sie waren: Menschen, die Fehler machen und die nicht perfekt sind. Nicht perfekt sein können und dabei nie zu vergessen, was sie aneinander hatten. Diese Fähigkeit gehörte zum Wichtigsten in ihrer Beziehung und machte sie in den Herausforderungen, die das Leben jedem in den Weg stellt, stark und zielstrebig. Sie wuchsen aneinander und jeder liess dem anderen den Platz, den er benötigte, um sich zu entwickeln. Als Claire dann aus dem Spital entlassen wurde, begann ein langer Weg zurück in einen neuen Alltag. Selbst kleinste Verrichtungen waren nicht mehr selbstverständlich und es bedurfte unendlich viel Kraft, sich wieder in den Alltag zurückzubringen und damit in ein möglichst selbständiges Leben. Das war für Claire sehr wichtig. Sie gab nie auf und in den Augenblicken, wo sie beinahe verzweifelte, fand sie in Manuel einen liebevollen Partner, der sie wieder motivierte, sie unterstützte und der an sie glaubte. Das gab ihr Kraft und sie konnte allmählich die meisten ihrer Fertigkeiten wieder erlangen. Nur eine leichte Gesichtslähmung auf der linken Seite blieb zurück, der den Mundwinkel leicht nach unten zog und auch die linke Hand war von nun an immer leicht abgewinkelt. Dies sei eine spastische Lähmung hatte ihnen ihr Neurologe erklärt, die sich leider nicht rückgängig machen liesse, die aber mit Physiotherapie und mit Akkupunktur gut zu behandeln sei. Dies waren die einzigen Zeichen, die von diesem Schicksalsschlag zurückblieben und sie beide lernten damit umzugehen. Claire, indem sie unermüdlich ihr Training durchzog und Manuel, indem er ganz ohne Aufheben die Dinge übernahm, die für sie schwierig geworden waren. Es dauerte beinahe ein ganzes Jahr, bis sie sich wieder in ein normales Leben zurück gekämpft hatten. Ein Leben, welches noch die eine oder andere Einschränkung barg, das aber wieder voller Vitalität und Dankbarkeit war. Im Gegenteil, sie hatten dadurch gelernt, wie wichtig es ist, jeden Augenblick bewusst wahrzunehmen und nicht als selbstverständlich zu betrachten. Auch dies war ein Grund, heute zu feiern, als Manuel in ihrem Lieblingsrestaurant „ihren“ Tisch reservierte und ihr bloss sagte sie solle sich festlich zurecht machen. Nun waren sie hier, voller Vorfreude. Es sollte ein schöner, ein friedlicher Abend werden.
„Meinen Sie mich?“ fragte Manuel ruhig den jungen Mann, der vor ihm stand.
„Ja, dich meine ich, alter Mann“ schnauzte dieser zurück.
„Um was geht es, wenn ich fragen darf?“
Manuel drehte sich auf seinem Stuhl nun vollends um, so dass er dem jungen Mann in die Augen sehen konnte.
„Mir passt es nicht, dass du hier hockst“ schnauzte dieser zurück. „Das ist unser Tisch. Hier pokern wir jeden Mittwochabend und heute ist Mittwoch“.
Manuel erhob sich von seinem Stuhl und stand nun direkt vor dem Jüngling, der ihn aus halb geschlossenen Augen wütend anfunkelte.
„Heute ist es unser Tisch, denn meine Frau und ich haben etwas zu feiern.“
„Mir egal“ blaffte es zurück „du würdest nun besser gehen, alter Mann, bevor du es bereust“.
Claire, die diese Szene mit steigender Besorgnis verfolgte, sprach Manuel von hinten an.
„Lass uns gehen, mein Liebling. Es ist besser so.“
Doch Manuel wollte nicht auf sie hören. Er wollte heute diesen Abend mit ihr geniessen. Mit ihr zusammen sein und über ihre gemeinsame Zeit und das, was noch kommen soll, sprechen. Sich ihr ganz nah fühlen. Das nächste was er spürte, war ein harter Schlag in seiner Magengrube. Manuel traf dieser Schlag völlig unerwartet und er sank in die Knie. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Die Gruppe junger Leute, die hinter ihrem Anführer standen, lachte hämisch und kam einen Schritt näher.
„Hab ich’s dir nicht gesagt, du alter Sack?“
Manuel stand mühsam wieder auf und stellte sich wieder vor den Jüngling, der ihn ein wenig irritiert anschaute.
„Ich werde mich nun wieder hinsetzen und den Abend mit meiner Frau geniessen und Sie werden gehen“ sagte er mit ruhiger Stimme und setzte sich wieder.
In diesem Augenblick zog ihm der junge Mann den Stuhl weg und Manuel fiel hart zu Boden. Wieder nur hämisches Grinsen. Von oben herab betrachtete ihn ein hartes, triumphierendes Gesicht.
„Du hast mich wohl falsch verstanden, du jämmerliche Gestalt. Dies ist mein Tisch und du wirst verschwinden“ zischte seine Stimme und ein feiner Nebel aus Speicheltropfen regnete auf Manuel nieder, begleitet von einer Wolke biergeschwängerten Atemluft.
Wieder stand Manuel auf, ordnete seine Kleider, nahm den Stuhl und setzte sich hin. Claire schaute ihn mit bittenden Augen an. Ihr war diese Situation sehr unangenehm und sie hatte Angst um ihren Mann. Sie wusste, wie sehr er sich beherrschen konnte und nicht auf Aggression reagierte. Nun packten ihn zwei starke Hände an den Schultern und rissen den Stuhl nach hinten. Der junge Mann beugte sich nach vorne und die Nasenspitzen der beiden Gesichter berührten sich beinahe.
„Du machst dich jetzt augenblicklich aus dem Staub, sonst werde ich richtig wütend“ blaffte der Jüngling und blies Manuel wieder mit jedem Wort eine eklige Bierwolke entgegen.
Dann warf er den Stuhl nach vorne, so dass Manuel die Tischkante direkt in die Rippen gedrückt bekam. Ein leiser Schmerzensschrei. Doch dann setzte er sich aufrecht hin und begann die Speisekarte zu lesen. Dies war nun definitiv eine Provokation, mit der der aggressive junge Mann nicht gerechnet hatte. Ein wenig verdutzt trat er einen Schritt zurück und seine Kumpanen schauten ihn gespannt an.
„Deine Alte da, die mit dem schiefen Gesicht, verdirbt einem ja sowieso den Appetit, so wie die aussieht. Also spar dir das Lesen der Speisekarte.“
Schallendes Gelächter aus der Gruppe. Doch was dann geschah, passierte blitzschnell. Manuel schnellte hoch, drehte sich um und packte den erschrockenen jungen Mann mit beiden Armen fest an den Schultern. Dann riss er ihn zu sich und schlug seinen Vorderkopf hart auf seinen, so dass der Mann stöhnend zu Bode ging. Noch bevor er auf sein Knie sank hatte Manuel sein rechtes Bein angewinkelt und dem Jüngling direkt in den Bauch gerammt, so dass es diesen wieder hochriss. Dann verpasste er ihm links und rechts eine derart schallende Ohrfeige, dass sein Kopf hin und her geschlagen wurde. Dann nahm Manuel sein Gesicht fest zwischen seine beiden Handflächen und drückte zu. Er fixierte seine entsetzten Augen und sprach in ruhiger Stimme:
„Das war nun zuviel. Beleidige nie mehr meine Frau oder du wirst von mir dermassen windelweich geschlagen, dass du dir wünschen würdest, nie geboren worden zu sein.“
Dann hob er den jungen Mann an seinen Schultern hoch, als wäre er eine Puppe und warf ihn der Gruppe verängstigt dastehenden Männern entgegen, die sich in einem engen Halbkreis langsam nach hinten zurückgezogen hatten. Diese fingen ihren Anführer auf, der vor Schmerz heulend mit zwei von ihnen zu Boden ging. Manuel machte einen Schritt auf die Gruppe zu. Ihr Wortführer stand mühsam vom Boden auf und begann, mehr stolpernd als mit sicheren Schritten, den Rückzug in Richtung Ausgang. Die anderen folgten ihm, ohne dabei Manuel aus den Augen zu verlieren, der ruhig dastand und jeden Einzelnen kurz mit einem festen Blick fixierte.
„Ich wünsche den Herren einen schönen Pokerabend“ rief er ihnen noch hinterher, bevor sich die Türe hinter ihnen schloss.
Manuel setzte sich wieder hin, nahm die Hand von Claire, streichelte sie und fragte sie zärtlich:
„Geniessen wir unseren Lieblings Apéro bevor wir das Essen bestellen, mein Liebling?“ dabei schaute er sie liebevoll an und griff nach ihrer Hand. Augenblicklich war die Angst von Claire abgefallen und sie wurde wieder ganz ruhig und schaute Manuel in seine braunen Augen, die ihr so vertraut waren. Nur kurz schweifte er in Gedanken nochmals in die Vergangenheit zurück, in die Kampfkunstschule, die er als junger Mann in Japan besucht hatte und die ihm später den schwarzen Meistergürtel überreichte, als er die gesamte Ausbildung mit Bravour absolviert und alle Prüfungen bestanden hatte. Er war damals der erste Europäer, dem dies gelang. Selbstbeherrschung, Höflichkeit und Zurückhaltung waren ihm dort gelehrt worden. Doch alles hatte seine Grenzen und vor allem wenn es um Claire ging wusste er, dass er es nicht zulassen konnte. Dafür liebte er sie zu sehr.